Irrsinn
sie gekümmert hast, obwohl du andere Pläne hattest … das hat mehr Mut gebraucht als alles, was man als Polizist tun muss.«
Verlegen blickte Lanny auf die Bäume. »Danke, Billy.« I r gendwie schien es ihn wirklich zu berühren, dass jemand sein Opfer anerkannte.
Dann jedoch überkam ihn offenbar ein verqueres Gefühl der Scham, das ihn dazu zwang, seine Leistung abzutun, wenn nicht gar zu verspotten: »Aber dafür bekomme ich leider keine Pension.«
Billy sah zu, wie er in sein Auto stieg und wegfuhr.
Im Schweigen der verschwundenen Möwen schwand der atemlose Tag, während die Hügel, Wiesen und Bäume sich allmählich mit Schatten verhüllten.
Auf der anderen Seite der Landstraße mühte sich die riesige Figur aus Holz noch immer ab, sich vor den Mühlsteinen der Industrie, brutalen Ideologien oder der modernen Kunst zu retten.
7
Das Gesicht Barbaras vor dem eingedellten Hintergrund des Kissens war Billys Verzweiflung und Hoffnung, sein Verlust und seine Erwartung.
In zweifacher Hinsicht war Barbara ein Anker für ihn. Eine r seits half ihr Anblick Billy dabei, auf Kurs zu bleiben, egal, welche Strömungen der Tag mit sich brachte.
Andererseits war jede schmerzhafte Erinnerung an die Zeit, in der sie noch auf wunderbar lebhafte Weise am Leben teilg e nommen hatte, eines von vielen Gliedern einer Kette, die ihn fesselte. Wenn sie einmal aus ihrem Koma ganz ins Dunkel glitt, würde die Kette sich festziehen, und dann versank er mit ihr in den finstersten Wassern.
Er kam nicht nur hierher, um ihr Gesellschaft zu leisten, weil er hoffte, dass sie selbst in ihrem inneren Gefängnis seine Gegenwart wahrnahm, sondern auch, um zu lernen, was wichtig für ihn war und was nicht, und um zu lernen, in der Stille zu sitzen. Vielleicht kam er auch, um trügerischen Frieden zu finden.
An diesem Abend war der Friede noch trügerischer als sonst.
Billys Blick wanderte oft von Barbaras Gesicht zu seiner Armbanduhr und zu dem Fenster, hinter dem der säuregelbe Tag langsam zu einem bitteren Zwielicht vergor.
In der Hand hielt er sein kleines Notizbuch. Er blätterte darin und las die geheimnisvollen Worte, die Barbara gesprochen hatte.
Wenn er ein Fragment fand, das ihn besonders faszinierte, las er es laut:
»… leichtes schwarzes Nieseln …«
»… Tod der Sonne …«
»… der Anzug einer Vogelscheuche …«
»… Lebern fetter Gänse …«
»… enge Straße, hohe Häuser …«
»… eine Zisterne für den Nebel …«
»… seltsame Gestalten … gespenstische Bewegung …«
»… klar tönende Glocken …«
Wenn sie hörte, wie ihre im Koma gesprochenen Worte noch einmal vorgelesen wurden, dann brachte sie das womöglich zum Sprechen, vielleicht sogar dazu, ihre Äußerungen zu ergänzen, sodass diese mehr Sinn ergaben. Das hoffte er jedenfalls.
An anderen Abenden hatten seine Bemühungen ihr tatsächlich ab und an eine Reaktion entlockt. Dabei hatte sie allerdings nie verdeutlicht, was sie früher einmal gesagt hatte, sondern nur neue, ebenso unverständliche Abfolgen von Wörtern von sich gegeben.
Heute Abend reagierte sie mit Schweigen und gelegentlich mit einem von jeder Emotion freien Seufzen, als wäre sie eine Maschine mit einem flachen, rhythmischen Atem, der durch zufällige Stromstöße sporadisch heftiger wurde.
Nachdem Billy einige Fragmente vorgelesen hatte, steckte er das Notizbuch wieder in die Tasche.
Da er erregt war, hatte er die Worte mit zu viel Kraft und zu viel Hast ausgesprochen. An einer bestimmten Stelle hatte er sich selbst gehört und festgestellt, dass er zornig klang, was Barbara sicher nicht guttat.
Er schritt durchs Zimmer. Das Fenster zog ihn magisch an.
Das Heim stand neben einem leicht abschüssigen Weinberg. Hinter dem Fenster breiteten sich schnurgerade aufgereihte Reben mit smaragdgrünen Blättern aus, die sich im Herbst blutrot verfärben würden. Die kleinen, harten Trauben brauchten noch viele Wochen bis zur Reife.
Die langen Bahnen zwischen den Reben waren schwarz g e sprenkelt von den Schatten der letzten Tagesstunde. Darunter breitete sich violetter Traubentrester aus, den man als Dünger verteilt hatte.
Gut zwanzig Meter vom Fenster entfernt stand ein Mann allein in einer dieser Bahnen. Er hatte keinerlei Gerätschaften dabei und machte auch sonst nicht den Eindruck, dort bei der Arbeit zu sein.
Wenn es sich um einen Winzer handelte, der einfach nur spazieren ging, war er eindeutig nicht in Eile. Mit gespreizten Beinen stand er da, die
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