Irrsinn
in sechsunddreißig Stunden ihr Ende. Die eigentliche Hölle war ewiger Natur, doch jede Hölle auf Erden musste zwangsläufig begrenzt sein.
Der Hinweis auf eine »letzte« Tötung bedeutete nicht notwe n digerweise, dass nur noch ein einziger Mord zu erwarten war. In den vergangenen eineinhalb Tagen hatte der Irre drei Menschen umgebracht, und womöglich erwies er sich in den kommenden eineinhalb Tagen als genauso mordlüstern.
Grausamkeit, Gewalt, Tod. Bewegung, Geschwindigkeit, Aufprall. Fleisch, Blut, Knochen.
Von diesen neun Worten des zweiten Dokuments schien eines besser zu Billys gegenwärtiger Lage zu passen als alle anderen: Geschwindigkeit.
Die Bewegung hatte eingesetzt, als die erste Botschaft unter dem Scheibenwischer von Billys Wagen hinterlassen worden war. Der Aufprall war die Wirkung des letzten Mordes, der ihn dazu bringen sollte, Selbstmord zu begehen.
Bis dahin würden ihm in sich stetig steigerndem Tempo immer neue Herausforderungen vor die Füße geworfen werden, um ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen. Der Ausdruck Geschwindi g keit schien anzukündigen, dass die längsten Abfahrten dieser Achterbahn noch vor ihm lagen.
Billy zweifelte weder daran, dass sich das Tempo tatsächlich steigern würde, noch tat er die Behauptung, er werde Selbstmord begehen, als Unsinn ab.
Sich selbst zu töten war eine Todsünde, doch Billy kannte sich als oberflächlichen Menschen, der in so mancher Hinsicht schwach und mit Fehlern behaftet war. Momentan war er zwar noch nicht fähig, sich selbst zu zerstören, doch letztlich konnten jedermanns Herz und Verstand gebrochen werden.
Es fiel ihm nicht besonders schwer, sich vorzustellen, was ihn an diesen Abgrund führen konnte. Eigentlich fiel es ihm überhaupt nicht schwer.
Gut, allein der Tod von Barbara Mandel würde ihn nicht in den Selbstmord treiben. Schließlich bereitete er sich nun schon fast vier Jahre darauf vor. Dabei hatte er sich mit Gewalt an die Vorstellung gewöhnt, auch ohne die Hoffnung auf ihre Gen e sung weiterzuleben.
Die Art und Weise, wie sie ermordet wurde, konnte jedoch durchaus zu einem verhängnisvollen Riss in Billys psychischer Architektur führen. In ihrem Koma würde sie zwar womöglich nicht viel von dem wahrnehmen, was der Mörder ihr antat. Wenn sie jedoch brutalen Schmerzen, schändlichem Missbrauch und groben Demütigungen ausgesetzt wurde, dann konnte Billy sich vorstellen, dass er unter dem Gewicht seines Entsetzens darüber zusammenbrach.
Dies war ein Mensch, der hübsche junge Lehrerinnen zu Tode prügelte und Frauen die Gesichtshaut abzog.
Mehr noch: offenbar plante der Irre, Billy nicht nur den Mord an Giselle Winslow, Lanny und Ralph Cottle in die Schuhe zu schieben, sondern auch den an Barbara. Wenn das geschah, dann hatte Billy womöglich nicht die Kraft, monatelang als Sensationsobjekt der Medien zu dienen und selbst dann sein Leben lang mit Argwohn betrachtet zu werden, wenn man ihn vor Gericht freisprach.
Der Irre tötete, weil er Vergnügen daran fand, aber außerdem verfolgte er auch einen Zweck und ging nach einem bestimmten Plan vor. Was immer der Zweck sein mochte, durch sein planvolles Vorgehen konnte es ihm durchaus gelingen, die Polizei davon zu überzeugen, dass Billy eine Reihe von Morden begangen hatte, die in dem an Barbara kulminierten. Billys vermeintliches Motiv: einen brutalen Serienkiller zu erfinden, um den Verdacht von sich abzulenken.
Wenn der Irre schlau war – und das war er! –, dann würden die Ermittler diese Theorie so freudig schlucken wie einen Löffel Vanilleeis. Schließlich hatte Billy in ihren Augen gute Gründe, Barbara zu beseitigen.
Ihre Pflege wurde durch den Ertrag eines sieben Millionen Dollar schweren Treuhandvermögens finanziert, das aus der Abfindung des für Barbaras Koma verantwortlichen Unterne h mens stammte. Billy gehörte zu den drei Treuhändern, die das Vermögen verwalteten.
Das war jedoch noch nicht alles. Wenn Barbara im Koma starb, dann war Billy der einzige Erbe des Vermögens.
Er wollte das Geld nicht, keinen Cent davon, und wenn er es bekam, würde er es nicht behalten. Er hatte schon immer vorgehabt, die Millionen dann einem guten Zweck zukommen zu lassen.
Diese noble Absicht würde ihm natürlich niemand glauben.
Besonders nicht, wenn es dem Irren gelang, ihn als Sünde n bock hinzustellen – falls das überhaupt sein Ziel war.
Die Sache mit der Notrufnummer schien jedenfalls eindeutig darauf hinzuweisen. Dadurch war Billy ins Visier der
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