Irrsinn
Billy neben dem Telefon und starrte es an. Beim sechsundzwanzigsten Läuten nahm er den Hörer ab.
Auf dem Display war keine Nummer angezeigt.
Billy sagte nicht hallo. Er lauschte.
Am anderen Ende herrschte erst einige Sekunden Schweigen, dann kam ein mechanisches Klicken, gefolgt von einem Z i schen, in das sich ein Knacksen und Scharren mischte. Das war das Geräusch einer leeren Audiokassette, deren Band über den Wiedergabekopf lief.
Als dann Worte folgten, handelte es sich um eine Aneinande r reihung von Stimmen, einige männlich, andere weiblich. Keine Stimme sprach mehr als drei Worte, oft war es nur eines.
Der uneinheitlichen Lautstärke nach zu urteilen, hatte der Irre diese Botschaft offenbar fabriziert, indem er unterschiedliche Aufnahmen kombiniert hatte, vielleicht Hörbücher, die von verschiedenen Sprechern gelesen worden waren.
» Ich werde … eine hübsche, rothaarige … Frau töten … Wenn du sagst … leg die … Schlampe … um … dann werde ich … sie … rasch töten … Sonst wird sie … große Qualen … erleiden … du hast … eine Minute … um zu … sagen … leg … die Schlampe … um. Du … hast … die Wahl. «
Wieder das Zischen, Knacksen und Scharren des leeren To n bands.
Das Dilemma war perfekt konstruiert. Es ließ keinen Raum für eine ausweichende Antwort, selbst wenn man sich sonst liebend gerne so verhielt.
Bisher war Billy nur insofern moralisch in die Sache hineing e zogen worden, als die Entscheidung durch sein Nichthandeln gefällt worden war.
Bei der Wahl zwischen der schönen, jungen Lehrerin und der sozial engagierten alten Frau waren beide Tode gleich tragisch gewesen, sofern man kein Vorurteil gegen alte Menschen hatte. Eine aktive Entscheidung zu treffen, hätte weder zu einer geringeren noch zu einer größeren Tragödie geführt, als nicht zu handeln.
Als es sich bei den möglichen Opfern um eine junge Mutter zweier Kinder und einen unverheirateten Mann gehandelt hatte, den die Welt angeblich nicht sehr vermissen würde, da hatte die größere Tragödie scheinbar im Tod der jungen Mutter besta n den. In diesem Fall waren die Optionen so konstruiert gewesen, dass Billy die Mutter verschonte, indem er nicht zur Polizei ging, wodurch seine Passivität belohnt wurde. Dabei hatte der Mörder sich Billys Schwäche zunutze gemacht.
Nun wurde Billy wieder aufgefordert, zwischen zwei Übeln zu wählen und dadurch zum Komplizen des Mörders zu werden. Diesmal war Passivität jedoch keine echte Option. Wenn er nichts sagte, verdammte er die als Opfer vorgesehene Frau zu großen Qualen, zu einem langen, grässlichen Todeskampf. Sagte er den Spruch hingegen, so verschaffte er ihr einen einigerm a ßen leichten Tod.
Retten konnte er sie nicht.
In jedem Falle trat ihr Tod ein.
Aber der eine Tod war glatter als der andere.
Von dem laufenden Tonband kamen zwei weitere Worte:
»… dreißig Sekunden … «
Billy glaubte, nicht atmen zu können, doch das stimmte nicht. Er glaubte, ersticken zu müssen, wenn er schluckte, doch er erstickte nicht.
»… fünfzehn Sekunden … «
Sein Mund war trocken. Seine Zunge wurde dick. Er glaubte, nicht sprechen zu können, doch er sagte: »Leg die Schlampe um.«
Der Irre legte auf. Billy ebenfalls.
Komplizen.
In Billys Magen begannen der zerkaute Schinken, das Brot und die Mayonnaise zu rumoren.
Hätte er geahnt, dass der Irre ihm übers Telefon tatsächlich etwas mitteilen würde, dann hätte er sich darauf vorbereiten können, die Botschaft aufzuzeichnen. Zu spät.
Auf die Polizei hätte eine solche Aufnahme allerdings ohnehin nicht besonders überzeugend gewirkt, jedenfalls nicht, bevor die Leiche einer rothaarigen Frau auftauchte. Wenn jedoch eine solche Leiche gefunden wurde, dann gab es an ihr bestimmt Indizien, die Billy in Verdacht brachten.
Obwohl die Klimaanlage ausgezeichnet funktionierte, kam ihm die Luft in der Küche erstickend heiß vor. Sie verklumpte sich in seinem Hals und lag schwer in seiner Lunge.
Leg die Schlampe um.
Ohne eine Erinnerung daran, das Haus verlassen zu haben, merkte Billy, dass er die Stufen der hinteren Veranda hinunte r ging. Er wusste nicht, wo er hinwollte.
Er setzte sich auf die Stufen.
Er starrte in den Himmel, auf die Bäume, den Garten.
Dann sah er seine Hände an. Er erkannte sie nicht.
35
Während Billy sich auf Umwegen von seinem Haus entfernte, bemerkte er keine Spur eines Verfolgers.
Da er im Wagen keine eingewickelte Leiche liegen hatte, riskierte er
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