Irrsinn
Ölbäume im leichten Wind.
Harry schwieg. »Es gibt Fälle, in denen Botulismuspatienten aus dem Koma erwacht sind und fast normal weiterleben konnten«, sagte er dann.
»Seltene Fälle, ja«, sagte Billy.
»Selten heißt nicht nie.«
»Ich versuche immer, realistisch zu sein, aber eigentlich will ich das gar nicht.«
»Früher hab ich gern Lauchcremesuppe gegessen«, sagte Harry. »Wenn ich das Zeug jetzt im Supermarkt stehen sehe, wird mir übel.«
Während Billy eines Samstags in der Kneipe tätig gewesen war, hatte Barbara sich zum Abendessen eine Dose Suppe aufgemacht. Lauchcremesuppe. Dazu einen Käsetoast.
Als sie am Sonntagmorgen nicht ans Telefon gegangen war, hatte Billy sich entschlossen, zu ihrer Wohnung zu fahren und sich mit seinem Schlüssel Einlass zu verschaffen. Er hatte Barbara bewusstlos auf dem Boden des Badezimmers vorgefu n den.
Im Krankenhaus hatte man sie rechtzeitig genug mit Gegengi f ten behandelt, um sie vor dem Tod retten zu können. Und nun schlief sie. Und schlief.
Bis sie aufwachte, falls sie das überhaupt jemals tat, konnte nicht genau bestimmt werden, inwieweit ihr Gehirn Schaden genommen hatte.
Der Hersteller der Suppe, eine namhafte Firma, hatte sofort eine ganze Charge des Produkts aus den Regalen räumen lassen. Von über dreitausend Dosen waren lediglich sechs vergiftet gewesen.
Bei keiner dieser sechs Dosen war der Deckel verräterisch nach oben gewölbt, weshalb Barbaras Leiden wahrscheinlich mindestens sechs anderen Menschen ein ähnliches Schicksal erspart hatte.
Trost darin zu finden – nun, das war Billy jedoch nie gelu n gen.
»Sie ist eine tolle Frau«, sagte Harry.
»Sie ist zwar bleich und dünn, aber ich finde sie noch immer schön«, sagte Billy. »Und irgendwo in ihrem Innern ist sie auch noch lebendig. Sie sagt Worte, Sätze. Ich hab’s dir ja erzählt. Sie lebt, und sie hat Gedanken.«
Er betrachtete die Ölbaumschatten, die durch die Linse des Fensters auf den Tisch geworfen wurden.
Harry sah er nicht an. Er wollte das Mitleid in dessen Augen nicht sehen.
Nach einer Weile machte Harry noch eine Bemerkung zum Wetter, und dann fragte Billy: »Hast du gehört, dass irgendwe l che Wissenschaftler in Princeton – vielleicht ist es auch Harvard – versuchen, ein Schwein mit einem menschlichen Gehirn zu züchten?«
»Solchen Blödsinn machen sie doch überall«, sagte Harry.
»Die lernen nie etwas. Je cleverer sie sind, desto dämlicher werden sie.«
»Ist doch ein Horror, oder?«
»Das sehen sie nicht. Nur Ruhm und Geld.«
»Was daran ruhmreich sein soll, ist mir schleierhaft.«
»Dass jemand Dinge wie Auschwitz ruhmreich findet, hätte man sich auch nicht vorstellen können. Trotzdem haben manche so gedacht.«
Nach einem Moment gemeinsamen Schweigens sah Billy Harry an. »Wenn’s darum geht, gute Laune zu verbreiten, bin ich ein wahrer Künstler, was?«
»Stimmt. Ich hab schon lange nicht mehr so gelacht.«
36
Billy ließ den Wagen vor Harrys Kanzlei stehen und ging zu Fuß zu einem Elektronik-Shop ganz in der Nähe. Dort kaufte er sich eine kompakte Videokamera und einen Rekorder. Man konnte das Gerät ganz normal verwenden, es jedoch auch irgendwo aufstellen und so programmieren, dass es im Abstand einiger Sekunden jeweils eine Au f nahme machte.
War der Rekorder in dieser zweiten Betriebsart mit der en t sprechenden DVD bestückt, so konnte das System eine ganze Woche lang einen Raum überwachen, so ähnlich wie die Kameras im Supermarkt.
Da es wegen des fehlenden Fensters nicht ratsam war, wertvo l le Dinge im Auto zu lassen, bezahlte Billy die Geräte zwar, ließ sie jedoch vorläufig zurücklegen.
Anschließend machte er sich auf die Suche nach einem Ze i tungsautomaten. Vor einer Apotheke fand er einen.
In der Titelgeschichte ging es um den Fall Giselle Winslow. Die Lehrerin sei am Dienstag in den frühen Morgenstunden ermordet worden, die Leiche entdeckt habe man allerdings erst am späten Nachmittag. Das war jetzt etwa vierundzwanzig Stunden her.
Das in der Zeitung abgedruckte Bild war nicht das, welches Billy in dem Buch auf Lanny Olsens Schoß gefunden hatte, doch es waren Aufnahmen derselben attraktiven Frau.
Die Zeitung unter dem Arm, marschierte Billy zur Zentrale der öffentlichen Bücherei. Einen Computer hatte er zwar zu Hause, aber keinen Internetzugang mehr; in der Bücherei gab es beides.
In der kleinen Computerecke war er allein. Die anderen B e nutzer saßen an den Lesetischen oder durchforschten die
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