Irrsinn
verstehe Ihren Schmerz, Billy, glauben Sie mir. Aber Ihnen fehlen die medizinischen Kenntnisse, um Barbaras Situation richtig einzuschätzen. Sie ist eben nicht richtig da, und das wird sie auch nie wieder sein.«
»Jetzt fällt mir doch etwas ein, was sie gerade vorgestern gesagt hat: ›Ich will wissen, was es sagt, das Meer … was es immer wieder sagt.‹«
Ferrier betrachtete ihn mit einer Mischung aus fast zärtlicher Nachsichtigkeit und Frustration. »Das ist das beste Beispiel dafür, dass sie etwas Sinnvolles äußert?«
»Gibt es nicht dieses Motto, als Arzt sollte man zuallererst nicht schaden?«, gab Billy zurück.
»Wir schaden anderen Patienten, wenn wir unsere begrenzten Ressourcen für hoffnungslose Fälle verwenden.«
»Barbara ist nicht hoffnungslos. Manchmal lacht sie sogar. Sie ist richtig da, und sie hat eine Menge Ressourcen zur Verf ü gung.«
»Mit denen man viel Gutes tun könnte, wenn man sie am rechten Platz einsetzen würde.«
»Ich will das Geld nicht.«
»Das weiß ich. Sie brächten es bestimmt nicht übers Herz, auch nur einen Cent für sich selbst auszugeben. Aber man könnte diese Mittel für Menschen verwenden, die ein größeres Potenzial haben, eine akzeptable Lebensqualität zu erreichen als Barbara, Menschen, denen man besser helfen könnte.«
Es gab einen weiteren Grund, weshalb Billy sich mit Ferrier herumschlug, statt ihn seiner Aufgaben zu entbinden: Der Arzt hatte sich in den Verhandlungen mit der Herstellerfirma der Dosensuppe, die relativ rasch zu einer außergerichtlichen Einigung geführt hatten, als außerordentlich hilfreich erwiesen.
»Ich denke nur an Barbara«, fuhr Ferrier fort. »Wenn ich in ihrer Lage wäre, würde ich auch nicht so daliegen wollen, Jahr für Jahr.«
»Und ich würde Ihre Wünsche respektieren«, sagte Billy.
»Aber was Barbaras Wünsche sind, wissen wir nicht.«
»Um sie zu erlösen, bräuchte man keine aktiven Schritte zu unternehmen«, argumentierte Ferrier zum x-ten Mal. »Wir müssten uns nur passiv verhalten und den Ernährungsschlauch entfernen.«
Im Koma hatte Barbara keinen verlässlichen Würgreflex mehr und konnte nicht richtig schlucken. Normal verabreichte Nahrung wäre in ihrer Lunge gelandet.
»Den Schlauch entfernen und der Natur ihren Lauf lassen.«
»Sie würde ganz einfach verhungern.«
»Wie die Natur es vorsieht, ja?«
Billy behielt Dr. Ferrier außerdem noch deshalb bei, weil dieser sich offen und ehrlich zur utilitaristischen Bioethik bekannte. Womöglich wäre ein anderer Arzt derselben Ansicht gewesen, hätte sie jedoch verschwiegen und sich als Engel – oder Werkzeug – der Gnade begriffen, wie er sie empfand.
Ferrier zettelte zwar zweimal jährlich diese Diskussion an, würde aber gewiss nicht ohne Billys Zustimmung handeln.
»Nein«, sagte Billy. »Nein, das werden wir nicht tun. Wir machen einfach so weiter wie bisher.«
»Vier Jahre ist eine schrecklich lange Zeit.«
»Der Tod dauert länger«, hielt Billy dagegen.
42
Es war sechs Uhr. Die im Abendlicht leuchtenden Weinbe r ge füllten das Fenster mit Sommer, Leben und Fülle.
Unter bleichen Lidern folgten Barbara Mandels Augen der Handlung eines lebhaften Traums.
Billy saß auf dem Barhocker an ihrem Bett. »Ich war heute bei Harry«, berichtete er. »Er grinst noch immer, wenn er sich daran erinnert, dass du ihn gern als Muppet bezeichnet hast. Er sagt, er ist besonders stolz darauf, dass man ihm nie die Lizenz entzogen hat.«
Sonst erzählte er Barbara nichts von seinem Tag. Der Rest wäre nicht sehr aufmunternd gewesen.
Was die Verteidigungsmöglichkeiten anging, hatte der Raum zwei Schwachpunkte: die Tür zum Flur und das Fenster. Das angeschlossene Bad war fensterlos.
Das Fenster war mit einem Rollo und einem ganz normalen Griff ausgestattet. Die Tür konnte nicht abgesperrt werden.
Wie jedes Krankenhausbett hatte auch das von Barbara Räder. Wenn es am Donnerstagabend auf Mitternacht zuging, konnte Billy sie von hier, wo der Mörder sie vermutete, in ein anderes Zimmer schieben, wo sie sicherer war.
An irgendwelche Lebenserhaltungssysteme oder Monitore war sie nicht angeschlossen. Die Flüssignahrung samt Pumpe hing an einem Gestell, das am Bettrahmen befestigt war.
Von der Schwesternstation in der Mitte des langen Hauptflurs konnte man nicht um die Ecke in den Westflügel schauen. Mit etwas Glück gelang es Billy also vielleicht, Barbara ungesehen im allerletzten Moment in Sicherheit zu bringen, um dann in ihr Zimmer
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