Irrsinn
merkwürdig als seine Frage.
»Was ist das – eine Krähe?«
»Nein, etwas Edleres. Er ist ein Rabe und will, dass wir gla u ben, dies wäre auch schon alles.«
Billy wusste nicht recht, was er dazu sagen sollte, deshalb sagte er gar nichts. In dem entstehenden Schweigen fühlte er sich wohl, und das galt offenbar auch für Ivy.
Mit einem Mal merkte Billy, dass das Gefühl der Dringlic h keit, mit dem er das Pflegeheim verlassen hatte, verschwunden war. Die Zeit lief ihm nicht mehr davon; sie schien an diesem Ort nicht einmal eine Rolle mehr zu spielen.
Endlich wandte der Vogel sich den Kirschen zu. Rasch und geschickt zupfte er mit dem Schnabel das Fruchtfleisch von den Kernen.
Ivys lange, gewandte Finger schienen langsam zu arbeiten, doch die Menge der geschälten Kerne in der Schüssel nahm rasch zu.
»Es ist so ruhig hier«, sagte Billy.
»Weil die Wände nicht jahrelang nutzloses Gerede aufgesogen haben.«
»Und wieso nicht?«
»Meine Großmutter war taub. Wir haben per Zeichensprache und schriftlich kommuniziert.«
Jenseits der hinteren Veranda breitete sich ein Blumengarten aus, dessen Blüten alle rot, tiefblau oder violett waren. Ob sich ein Blatt regte, ob eine Grille zirpte, ob Bienen die Rosen umkreisten, hörte man nicht, denn nicht das leiseste Geräusch drang durch die offenen Fenster.
»Vielleicht würdest du jetzt gern Musik hören«, sagte Ivy, »aber mir ist es lieber ohne.«
»Magst du keine Musik?«
»Ich höre schon in der Kneipe genug.«
»Ich mag Zydeco und Western Swing. Die Texas Top Hands. Bob Wills & His Texas Playboys.«
»Außerdem spielt ohnehin schon Musik«, sagte Ivy, »wenn man leise genug ist, um sie zu hören.«
Offenbar war er nicht leise genug.
Er zog das Foto der toten Gottesanbeterin aus der Tasche und legte es auf den Tisch. »Das hab ich auf dem Boden von Barbaras Zimmer im Pflegeheim gefunden.«
»Du kannst es behalten, wenn du willst.«
Er wusste nicht, was er damit anfangen sollte. »Hast du sie besucht?«, fragte er.
»Ich sitze manchmal ein wenig bei ihr.«
»Das wusste ich gar nicht.«
»Sie war nett zu mir.«
»Du hast doch erst in der Kneipe angefangen, als sie bereits ein Jahr im Koma lag.«
»Ich kannte sie vorher schon.«
»Ach so.«
»Sie war nett zu mir, als meine Großmutter im Krankenhaus im Sterben lag.«
Barbara war Krankenschwester gewesen, eine gute.
»Wie oft besuchst du sie denn?«, fragte Billy.
»Einmal im Monat.«
»Wieso hast du mir das nie erzählt, Ivy?«
»Dann hätten wir über sie sprechen müssen, oder etwa nicht?«
»Über sie sprechen?«
»Darüber sprechen, in welchem Zustand sie ist, wie sie geli t ten hat – ist das gut für deine Seelenruhe?«
»Für meine Seelenruhe? Nein, natürlich nicht.«
»Erleichtert es dich dann, wenn du dir ins Gedächtnis rufst, wie sie früher war, als sie noch nicht im Koma lag?«
Billy dachte nach. »Manchmal.«
Ivy hob den Kopf, und ihre intensiven, brandyfarbenen Augen sahen ihn an. »Dann sprich jetzt nicht über sie. Tu es, wenn es gut für dich ist.«
Der Rabe hatte inzwischen zwei Kirschen verzehrt und machte eine Pause, um die Flügel auszubreiten. Lautlos öffneten sie sich, um sich ebenso lautlos wieder zu schließen.
Als Billy sich Ivy zuwandte, war ihr Blick zu ihren schälenden Händen zurückgekehrt.
»Wieso hast du das Foto mitgenommen, als du sie besucht hast?«, fragte er.
»Ich nehme sie überallhin mit. Die neuesten Fotos von toten Tieren, meine ich.«
»Aber wozu?«
»Haruspizium«, erinnerte sie ihn. »Ich deute sie. Sie sagen aus, was geschehen wird.«
Er nahm einen Schluck Tee.
Der Rabe beobachtete ihn mit offenem Schnabel, als würde er krächzen. Kein Laut war zu hören.
»Was sagen die Fotos über Barbara aus?«, fragte Billy.
Ivys gelassenes und ein wenig entrücktes Wesen verbarg, ob sie ihre Antwort abwog oder ob sie nur zögerte, weil ihre Gedanken gleichzeitig hier und anderswo waren. »Nichts«, erwiderte sie.
»Überhaupt nichts?«
Sie hatte ihre Antwort gegeben. Eine andere hatte sie nicht parat.
Die Gottesanbeterin auf dem Foto, das da auf dem Tisch lag, sagte Billy auch nichts.
»Wer hat dich eigentlich auf die Idee gebracht, tote Tiere zu deuten?«, fragte er. »Deine Großmutter?«
»Nein. Die war dagegen. Sie war eine gläubige Katholikin alten Stils. Für sie war es eine Sünde, an okkulte Dinge zu glauben, weil es eine Gefahr für die unsterbliche Seele bede u tet.«
»Aber du bist anderer Meinung.«
»Einerseits
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