Irrsinn
ja, andererseits nein«, sagte Ivy noch leiser als gewöhnlich.
Nachdem der Rabe die dritte Kirsche verzehrt hatte, lagen die nackten Kerne fein säuberlich aufgereiht auf dem Fensterbrett, als wollte das Tier damit ausdrücken, dass es die im Hause herrschenden Regeln von Sauberkeit und Ordnung anerkannte.
»Die Stimme meiner Mutter hab ich nie gehört«, sagte Ivy.
Erst wusste Billy nicht, was er mit dieser Aussage anfangen sollte, dann fiel ihm ein, dass ihre Mutter bei ihrer Geburt gestorben war.
»Seit ich ganz klein war, weiß ich, dass meine Mutter mir etwas schrecklich Wichtiges zu sagen hat«, fuhr Ivy fort.
Zum ersten Mal fiel ihm die Wanduhr auf. Sie hatte weder Sekunden-, noch Minuten- oder Stundenzeiger.
»In diesem Haus war es immer so ruhig«, sagte Ivy. »So ruhig. Da lernt man zuzuhören.«
Billy lauschte.
»Die Toten haben uns etwas zu erzählen.«
Mit Augen aus poliertem Anthrazit betrachtete der Rabe seine Gebieterin.
»Die Wand ist dünner hier«, sagte sie. »Die Wand zwischen den Welten. Ein Geist könnte durch sie hindurch sprechen, wenn er es unbedingt wollte.«
Während sie die leeren Pistazienschalen beiseiteschob und die Kerne in die Schüssel warf, entstand eine ganz leise Symphonie aus Tönen, noch leiser als die schmelzenden Eiswürfel, die sich in den zwei Teegläsern bewegten.
»Manchmal«, sagte Ivy, »nachts oder in einem besonders stillen Augenblick am Nachmittag, oder in der Dämmerung, wenn der Horizont die Sonne verschluckt und ganz zum Schweigen bringt – da weiß ich, dass sie mich ruft. Dann kann ich fast hören, welchen Tonfall ihre Stimme hat … aber keine Wörter. Jedenfalls noch nicht.«
Billy dachte daran, wie Barbara in der Tiefe ihres unnatürl i chen Schlafs Worte sprach, die für jedermann sonst sinnlos klangen, für ihn jedoch mit einer rätselhaften Bedeutung behaftet waren.
Er fand Ivy Elgin ebenso beunruhigend wie verführerisch. In Augenblicken, in denen ihm ihre Unschuld regelrecht makellos vorkam, erinnerte er sich daran, dass es auch in ihrem Herzen – wie im Herzen aller Menschen – eine Kammer geben musste, zu der kein Licht vordrang und wo kein beruhigendes Schweigen herrschte.
Ungeachtet dessen, was er selbst über das Thema Leben und Tod dachte, und trotz der fragwürdigen Motive, die Ivy mögl i cherweise hegte, hatte Billy den Eindruck, dass sie ehrlich glaubte, was sie sagte: Ihre Mutter versuchte, zu ihr zu sprechen und würde das auch weiterhin versuchen, bis es ihr gelang.
Außerdem beeindruckte sie ihn so stark – nicht rational, sondern durch die Wirkung auf sein empfängliches Unbewusstes –, dass er sie nicht einfach als exzentrisch abtun konnte. Vielleicht war die Wand zwischen den Welten in diesem Haus durch das jahrzehntelange Schweigen tatsächlich dünner geworden.
Die Voraussagen, die Ivy aus der Betrachtung toter Tiere ableitete, waren nur selten korrekt. Sie führte das auf ihre mangelnde Erfahrung zurück, die Zeichen richtig zu deuten.
Einwände, dass schon der Versuch sinnlos sei, ließ sie nicht gelten.
Nun begriff Billy, weshalb sie so hartnäckig war. Wenn es nicht möglich war, aus dem spezifischen Zustand eines toten Lebewesens die Zukunft herauszulesen, dann hatten womöglich auch die Toten uns nichts zu sagen. Und dann würde ein Kind, das auf die Stimme seiner toten Mutter lauschte, diese nie hören, egal, wie sehr es sich anstrengte und wie still und aufmerksam es war.
Deshalb also studierte sie die Fotos von Beutelratten, die mit gebrochenem Rückgrat am Straßenrand lagen, von toten Insekten und von Vögeln, die vom Himmel gefallen waren.
Schweigend ging sie durchs Haus, geräuschlos schälte sie Pistazien, leise sprach sie zu dem Raben, falls sie überhaupt zu ihm sprach, und gelegentlich wurde aus der Ruhe eine vol l kommene Stille.
Eine solche Stille war auch jetzt auf sie herabgesunken, doch Billy brach sie.
»Manchmal behalten psychopathische Mörder Souvenirs, um sich an ihre Opfer zu erinnern«, sagte er. Dabei beobachtete er Ivy aufmerksamer, als der Vogel es getan hatte. Was ihn interessierte, war weniger ihr Kommentar als ihre sonstige Reaktion.
Ivy nahm einen Schluck Tee und machte sich dann wieder ans Schälen, als wäre Billys Bemerkung nicht merkwürdiger gewesen als ein Kommentar zur Sommerhitze.
Offenbar konnte nichts, was man zu Ivy sagte, ihr eine übe r raschte Reaktion entlocken – so als wüsste sie schon im Voraus, was man sagen würde.
»Ich hab nämlich von diesem
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