Irrsinn
Fall gehört«, fuhr er fort, »wo ein Serienmörder einem seiner Opfer das Gesicht abgeschnitten hat, um es in einem Glas mit Formaldehyd aufzubewahren.«
Ivy schaufelte die Pistazienschalen vom Tisch und warf sie in den Abfalleimer neben ihrem Stuhl. Eigentlich warf sie sie gar nicht hinein, sondern deponierte sie dort so, dass sie überhaupt nicht rasselten.
Obwohl er Ivy aufmerksam beobachtete, konnte Billy nicht feststellen, ob sie schon von dem Gesichtsdieb gehört hatte oder ob ihr die Geschichte neu war.
»Wenn du auf so eine gesichtslose Leiche stoßen würdest, was würdest du dann aus ihr herauslesen? Nicht über die Zukunft, sondern über ihn, den Mörder.«
»Theater«, sagte sie, ohne zu zögern.
»Ich weiß nicht recht, was du damit meinst.«
»Er liebt das Theater.«
»Inwiefern?«
»Das Drama, ein Gesicht abzuschneiden«, sagte Ivy.
»Tut mir leid, ich verstehe dich immer noch nicht.«
Sie nahm eine Kirsche aus der flachen Schale.
»Das Theater besteht aus Täuschung«, sagte sie. »Kein Scha u spieler spielt sich selbst.«
»Aha«, sagte Billy abwartend.
»Bei jeder Rolle nimmt man als Schauspieler eine falsche Identität an.«
Ivy steckte sich die Kirsche in den Mund. Einige Sekunden später spuckte sie den Kern in ihre Hand und schluckte das Fruchtfleisch herunter.
Vielleicht wollte sie damit andeuten, dass es sich bei dem Kern um die zentrale Realität einer Kirsche handelte. Jedenfalls glaubte Billy das zu verstehen.
Wieder sah Ivy ihm in die Augen. »Er wollte das Gesicht nicht haben, weil es ein Gesicht ist. Er wollte es, weil es eine Maske ist.«
Ihre Augen waren zwar schöner, als dass sie deutbar gewesen wären, aber Billy hatte trotzdem den Eindruck, dass Ivy von ihrer Erkenntnis nicht so schockiert war wie er. Wenn man das ganze Leben damit verbrachte, auf die Stimmen der Toten zu lauschen, geriet man offenbar nicht so leicht aus dem Gleichg e wicht.
»Meinst du etwa, dass er das Ding manchmal aus dem Glas nimmt und aufsetzt, wenn er allein ist?«, fragte er.
»Schon möglich. Vielleicht wollte er es auch nur haben, weil es ihn an ein wichtiges Drama in seinem Leben erinnert, an eine Darbietung, die ihm besonders viel bedeutet.«
Darbietung.
Auf diesen Ausdruck hatte ihn zuerst Ralph Cottle gebracht. Ob Ivy ihn wissentlich oder in aller Unschuld wiederholt hatte, konnte er nicht beurteilen.
Sie sah ihm immer noch in die Augen. »Meinst du eigentlich, jedes Gesicht ist eine Maske, Billy?«
»Meinst du das denn?«
»Selbst meine taube Großmutter, die so sanft und freundlich wie eine Heilige war, hatte ihre Geheimnisse. Natürlich waren es unschuldige, liebenswerte Geheimnisse. Ihre Maske war fast so durchsichtig wie Glas – aber getragen hat sie doch eine.«
Er wusste nicht, was sie ihm sagen wollte, was er aus ihren Worten ableiten sollte. Sie direkt zu fragen, hätte aber wah r scheinlich auch zu keiner deutlicheren Antwort geführt.
Bei alledem war es wohl nicht so, dass sie ihn absichtlich in die Irre führte. Wenn es sich bei ihren Worten häufig eher um Anspielungen als um klare Aussagen handelte, so lag das an ihrem Wesen. Alles, was sie sagte, klang so klar und rein wie eine Glocke und verweigerte sich doch oft einer simplen Interpretation.
Oft schien ihr Schweigen mehr zu sagen als ihre Worte. Für ein Mädchen, das von einer tauben Großmutter erzogen worden war, war das durchaus plausibel.
Wenn er ihr Verhalten also einigermaßen richtig deutete, dann versuchte sie in keiner Weise, ihn zu täuschen. Weshalb aber hatte sie dann gerade gesagt, jedes Gesicht – also auch ihr eigenes – sei eine Maske?
Wenn Ivy Barbara nur deshalb besuchte, weil diese früher nett zu ihr gewesen war, und wenn sie nur deshalb Fotos von toten Tieren ins Pflegeheim mitnahm, weil sie die immer dabeihatte, dann hatte das Bild der Gottesanbeterin keinerlei Zusamme n hang mit der Falle, in der Billy steckte. Von dem wahnsinnigen Mörder wusste Ivy dann ebenfalls nichts.
Wenn dem so war, dann hätte er eigentlich aufstehen können, um zu tun, was dringend getan werden musste. Trotzdem blieb er am Tisch sitzen.
Ihr Blick hatte sich wieder gesenkt, und ihre Hände beschäfti g ten sich wieder mit der ruhigen, nützlichen Aufgabe des Pistazienschälens.
»Meine Großmutter war von Geburt an taub«, sagte Ivy.
»Sie hat nie ein gesprochenes Wort gehört und wusste deshalb nicht, wie man Worte bildet.«
Während Billy ihre flinken Finger beobachtete, ahnte er, dass sie ihre
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