Irrtum!: 50 Mal Geschichte richtiggestellt
streitbaren Gesellschaft – wurden verboten oder unter nationalsozialistischen Vorzeichen neu aufgestellt. In jedem Bereich des gesellschaftlichen Lebens bis weit ins Private hinein sollte der Triumph der hitlerschen Ideologie unübersehbar das Ruder übernehmen. Diese Gleichschaltung war ungeheuer erfolgreich und unabdingbar für den Erfolg der Diktatur.
Aber reichte der braune Arm wirklich bis in jeden Bereich des gesellschaftlichen Lebens, bis in den letzten Winkel der Gesellschaft? Es war schwer, sich ihm zu entziehen, und die übergroße Zahl der Deutschen ließ sich willig blenden und machte mit. Wer sich einen eigenen Kopf bewahrte, aber nicht auswandern konnte oder wollte, der begab sich in die sogenannte innere Emigration. Nur sehr wenige entschieden sich für den aufrechten Gang, weil der lebensbedrohlich war. Zu diesen Aufrechten, die mit Witz widerstanden und sich eine gewisse Narrenfreiheit erlaubten, gehören nach landläufiger Ansicht die deutschen Karnevalisten.
Der deutsche Karneval hat seine Hochburgen am Rhein, in München, im Alemannischen und im Thüringischen. Er gehört zum ältesten Brauchtum, auch wenn mögliche heidnische oder römische Wurzeln nicht mehr nachzuweisen sind. Im Mittelalter half die Fastnacht, die überaus streng reglementierte christliche Fastenzeit zwischen Aschermittwoch und Karfreitag zu ertragen, indem direkt vorher Festschmaus und anarchisches Treiben toleriert, ja regelrecht institutionalisiert wurden – dazu gehörte viel Lärm, mit dem man den dunklen Winter effektvoll vertreiben wollte. Mehr als ohnehin nutzte man die Freiheiten, um sich über die »Pfaffen« lustig zu machen, unter denen man so oft zu leiden hatte. Da war es doch eine feine Sache, sich unter einer Mönchskutte zu verstecken und aktiv das zu betreiben, was man den Kirchenleuten nicht immer zu Unrecht unterstellte: dass sie unter dem Deckmantel der Keuschheit nach Kräften Unzucht trieben. Das Verkleiden war auch deshalb beliebt, weil das Mittelalter ansonsten strenge Kleiderordnungen kannte, damit jedes Menschen Rang und Wertigkeit sogleich erkennbar waren.
Traditionell regnen bei den Kappensitzungen und den Karnevalsumzügen alljährlich nicht nur Bonbons und Konfetti auf die Festgemeinde, ebenso wird gegen die Mächtigen ordentlich gekübelt. Narrenfreiheit bedeutet, dass ausnahmsweise einmal Spott und Kritik erlaubt werden, die sonst unstatthaft oder verboten sind. In früheren Jahrhunderten waren kirchliche und weltliche Fürsten, in den Bistümern Mainz und Köln ohnehin in Personalunion, Zielscheibe der munteren Verunglimpfungen. Bis ungefähr zur Mitte des 19. Jahrhunderts kamen obrigkeitskritische Töne am gestrengen Preußenregiment noch häufiger vor, so noch in den Revolutionszeiten 1848/49, dann aber ergriff der nationale Taumel im preußisch-militaristischen Gewand im Gefolge der Einigungskriege und schließlich der Reichsgründung auch die Narren. Treu für Kaiser und Reich rühmte man um die Jahrhundertwende zum Karneval auch das Gemetzel deutscher Truppen bei der Niederschlagung des Boxeraufstandes in China.
Auch die Nazis suchten die Nähe zum deutschen Karneval, den sie massiv förderten. Als Massenereignis war er für die Inszenierung unter NS-Vorzeichen bestens geeignet. Gauleiter und die Propagandaabteilungen der NSDAP kümmerten sich überall im Reich darum, der Partei gestaltenden Einfluss auf das Karnevalsgeschehen zu ermöglichen. Mitte der 1930er-Jahre nahm sich die allseits präsente, riesige staatliche Freizeitorganisation KdF (Kraft durch Freude) des Karnevals an. Nach und nach wurden die jüdischen Karnevalisten auf der Grundlage der Nürnberger Rassengesetze von 1935 aus den Vereinen verdrängt.
Besonders gut gelang die Vereinnahmung, wenig erstaunlich, in der »Stadt der Bewegung« München. In Köln kam es hingegen 1935 zur sogenannten »Narrenrevolte«, als die örtlichen Vereine gegen die Gründung eines zentralen »Vereins Kölner Karneval« unter NS-Regie aufbegehrten – dass sie sich durchsetzen konnten, lag nicht zuletzt am wohlkalkulierten Schweigen des NSDAP-Gauleiters Grohé, dem die Sache gelegen kam, konnte er so doch seine eigene Stellung in der Domstadt stärken. Einen politischen Hintergrund hatte diese Revolte aber keineswegs, und der Widerstand der Jecken gegen die Gleichschaltung dient ebenso wenig als geeigneter Nachweis einer NS-kritischen Haltung wie sonstige Reibereien zwischen Parteiorganisationen und Karnevalsvereinen. Überhaupt
Weitere Kostenlose Bücher