Irrtum!: 50 Mal Geschichte richtiggestellt
Tagebuch hielt er am 9. April fest: »Ich veranlasse, dass die Massengräber von neutralen Journalisten aus Berlin besucht werden. Auch lasse ich polnische Intellektuelle hinführen. Sie sollen dort einmal durch eigenen Augenschein davon überzeugt werden, was ihrer wartet, wenn ihr vielfach gehegter Wunsch, dass die Deutschen durch die Bolschewisten geschlagen würden, tatsächlich in Erfüllung ginge.« Am 13. April 1943 berichtete Radio Berlin vom Fund der Massengräber in Katyn mit den sterblichen Überresten Tausender polnischer Offiziere, die aufgrund ihres mumifizierten Zustandes sowie der noch vorhandenen Uniformen und Ausweispapiere gut zu identifizieren seien. Rotes Kreuz und internationale Mediziner, ausländische Journalisten und polnische Delegationen wurden vor Ort geladen, um ihnen die Ergebnisse der Ermittlungen und Obduktionen zur Kenntnis zu bringen. In der heiklen Lage nach der Niederlage von Stalingrad Anfang 1943 und dem einsetzenden Rückzug der Wehrmacht sollte die Nachricht eines sowjetischen Massakers an polnischen Militärs das Ansehen Moskaus schädigen und als Spaltpilz für die Anti-Hitler-Koalition dienen. Auch die polnische Exilregierung in London sollte der Sowjetunion entfremdet werden, was tatsächlich gelang: Weil die Vertreter Polens der Sache nachgehen wollten, fielen sie bei den Alliierten in Ungnade. Im Inland diente die Nachricht ebenfalls dazu, die antideutsche Koalition als verbrecherisch hinzustellen. Goebbels notierte: »Ich gebe Anweisung, dieses Propagandamaterial in weitestem Umfang auszunutzen. Wir werden davon einige Wochen leben können.«
Stalin reagierte prompt und ließ am 15. April über Radio Moskau den Kriegsgegner der Propagandalüge bezichtigen: Vielmehr seien die Deutschen selbst die Urheber der Erschießungsaktion gewesen. Diese Version der Ereignisse wurde aber nicht nur vom Kreml behauptet, sondern blieb von Stalins Bündnispartnern unwidersprochen, wollten diese doch keine Schwächung des unverzichtbaren Waffenbruders und der gemeinsamen Anti-Hitler-Koalition riskieren. Die Indizien sprachen zwar für die deutsche Version, aber die Erfahrung lehrte, dass der Propaganda des Dr. Goebbels nicht zu trauen war. Außerdem sollte der vereinte Kampf gegen Hitlerdeutschland so lange in größtmöglichem Einvernehmen harmonisch bewerkstelligt werden, bis das Naziregime gestürzt war.
Dieser Verrat des Westens an Polen setzte sich nach dem Krieg noch fort, als Großbritannien und die USA die polnische Exilregierung fallen ließen und Polen der Sowjetunion als Einflussgebiet zugestanden. Aus polnischer Perspektive wechselte damals nur die Natur der Diktatur, aber die Fremdherrschaft blieb bestehen, bis sich Polen in den Achtzigerjahren nach und nach von ihr befreien konnte. Als die Rote Armee bei ihrem Vormarsch in Richtung Berlin nach Katyn zurückkehrte, wurde abermals eine Kommission eingesetzt, die erwartungsgemäß bestätigte, dass die Morde auf das Konto der Deutschen gingen und sowieso erst im Herbst 1941 stattgefunden hatten. Es wurden allerlei fingierte Beweise ins Spiel gebracht sowie aus der Tatsache Nutzen gezogen, dass die Opfer mit deutschen Waffen erschossen worden waren.
Tatsächlich hatte aber der sowjetische Geheimdienst NKWD die polnischen Offiziere auf dem Gewissen, der damit einen Befehl des Moskauer Politbüros vom 5. März 1940 ausführte. Stalin höchstpersönlich setzte seine Unterschrift unter die Befehle, weil die Polen »allesamt eingefleischte, unverbesserliche Feinde der Sowjetmacht« seien. Mit der Organisation betraut wurden NKWD-Chef Lawrenti Beria und sein Stellvertreter Wsewolod Merkulow. Der Geheimdienst verfügte seit Jahren über das abgesperrte Waldgelände und hatte es schon öfter genutzt, um unliebsame Personen zu liquidieren, mehrere Tausend Russen waren bereits in den Dreißigerjahren während der stalinistischen »Säuberungsaktionen« im Wald von Katyn umgebracht worden. Ihre Gräber wurden nach dem Ende der Sowjetunion gefunden, als Polen Grabungen unternehmen durfte. Dem russischen Staat kam das ungelegen, Unterstützung blieb aus, und im Unterschied zu den polnischen Offizieren wurden nicht einmal die Namen der Ermordeten ermittelt. Stattdessen schloss man die Akten – die eigenen Toten unter den Terroropfern Stalins erfahren bis heute nicht die verdiente Würdigung.
Die in Katyn erschossenen Offiziere waren nicht die einzigen Polen, die zu Beginn des Zweiten Weltkriegs im Zuge des russischen Vormarschs
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