Irrtum!: 50 Mal Geschichte richtiggestellt
eine Katholikin machte, nicht aber nach russisch-orthodoxem Brauch – fielen für ihre Fürsprecher naturgemäß wenig ins Gewicht. Eine umfassende Untersuchung aber, die weniger aufgrund des öffentlichen Interesses, sondern wegen erbschaftsrechtlicher Fragen durchgeführt wurde, ergab schließlich 1927, dass es sich bei der Dame nicht um die russische Prinzessin, sondern um die polnische Arbeiterin Franziska Schanzkowski handelte.
Der Faszination am Fall der angeblichen Zarentochter tat das jedoch keinen Abbruch. Sie erfuhr weiterhin Unterstützung wichtiger Adeliger, wenn auch nicht der maßgeblichen Romanow-Verwandtschaft, die das Ganze 1928 rundheraus als, wenn auch wünschenswertes, Märchen bezeichnete. Immer wieder wurde die Angelegenheit untersucht, bis Ende der Sechzigerjahre, als »Fräulein Unbekannt« bereits in die USA übergesiedelt war. In Virginia starb die angebliche letzte Zarentochter 1984 als Anna Manahan, begraben wurde sie am Chiemsee in Oberbayern.
Auch Hollywood blieb von der anrührenden Geschichte nicht unberührt, am bekanntesten ist die Verfilmung von 1956 mit Ingrid Bergman in der Titelrolle, die dafür einen Oscar erhielt. Diese Franziska Schanzkowski alias Anna Tschaikowski alias Anderson alias Manahan alias Anastasia Romanow sollte nicht die Einzige bleiben, die behauptete, die letzte Zarentochter zu sein – neben der Berühmtheit winkte da ja auch die Aussicht auf ein einträgliches Erbe. Kein Wunder also, dass überall in Europa angebliche Überlebende der verschiedenen Massaker an Mitgliedern der Familie Romanow wie Pilze aus dem Boden schossen. Im Ganzen gab es rund ein Dutzend Wiedergängerinnen der russischen Prinzessin, unter denen die Berliner Anastasia die bekannteste blieb. Was aber hat es mit der Geschichte der Zarentochter Anastasia wirklich auf sich?
Nach der russischen Februarrevolution 1917 hatte Nikolaus II. am 15. März abgedankt und stand fortan mit seiner Familie unter Hausarrest im Alexanderpalast von Zarskoje Selo bei Sankt Petersburg, bevor man sie im August nach Tobolsk in Westsibirien deportierte. Nach der Oktoberrevolution, die die Bolschewiki an die Macht brachte, erfolgte ihre Verbringung nach Jekaterinburg am Uralgebirge, Hochburg der Bolschewiken. Sicherheitsfragen waren ausschlaggebend: jedoch nicht die Sicherheit der Zarenfamilie, sondern Vorkehrungen gegen ihre Befreiung. Die Romanows wurden in der Villa des Händlers Ipatjew interniert, die man mit hohen Zäunen umgab und streng bewachte. Vier Räume wurden ihnen dort zur Verfügung gestellt, das Gebäude betitelt als »Haus zur besonderen Verwendung«. Dort lebten nun, zusammen mit dem arg verkleinerten Hofstaat und unter denkbar ungewohnten Umständen, Nikolaus, seine Frau und die fünf Kinder: der vierzehnjährige ehemalige Thronfolger Alexej und seine vier Schwestern Olga, Tatjana, Maria und Anastasia. Das jüngste der Mädchen, die siebzehnjährige Anastasia, war ein wenig fülliger als die Schwestern, galt als eigensinnig und nicht übermäßig lernfreudig.
Die Sowjetregierung in Moskau war zunächst unentschieden, was das weitere Schicksal der Festgesetzten betraf. In den Zeitungen kursierten immer wieder Gerüchte, die Zarenfamilie sei bereits ermordet worden. Zweieinhalb Monate nach der Ankunft der Romanows in Jekaterinburg wurde beschlossen, kein Gerichtsverfahren gegen Nikolaus anzustrengen, sondern mit der gesamten Familie kurzen Prozess zu machen. Ob diese Entscheidung in Moskau fiel oder von den besonders radikalen Bolschewiki Jekaterinburgs getroffen wurde, ist umstritten. Angesichts innenpolitischer Probleme und außenpolitischer Bedrohung mag die Moskauer Führung sich entschieden haben, ein kraftvolles Zeichen der Initiative zu setzen. Was Jekaterinburg betraf, so stand zu befürchten, dass es in absehbarer Zeit von antibolschewistischen Truppen erobert werden würde, denen Nikolaus keinesfalls in die Hände fallen sollte – man fürchtete offenbar den starken Symbolcharakter einer solchen Befreiung der Zarenfamilie.
Jakow Jurowski, Kommissar der lokalen Geheimpolizei, Mitglied des Exekutivrats des Sowjets des Uralgebiets und Befehlshaber im »Haus zur besonderen Verwendung«, wurde zum Kommandeur des Erschießungskommandos und schrieb später einen Bericht darüber. Danach wurden Nikolaus, seine Frau Alexandra Fjodorowna, ihre fünf Kinder sowie vier enge Vertraute in der Nacht zum 17. Juli 1918 in den Keller des Hauses gebracht, angeblich zu ihrem Schutz, weil es in
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