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Irrtum!: 50 Mal Geschichte richtiggestellt

Irrtum!: 50 Mal Geschichte richtiggestellt

Titel: Irrtum!: 50 Mal Geschichte richtiggestellt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernd Ingmar Gutberlet
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politische. Überhaupt spielte Ostasien, wo das Kaiserreich China schwächelte und Japan aggressiv auftrat, eine wachsende Rolle für die europäische Politik. Zugleich zeichnete sich der Zerfall des mächtigen Osmanischen Reiches ab, was natürlich in vielen Hauptstädten Begehrlichkeiten weckte und Planungen für das Kommende nötig machte.
    Aber nicht nur die Großmächte, auch die kleineren Staaten verfolgten ihre Interessen, zumal die jungen auf dem Balkan, insbesondere Rumänien, Bulgarien und Serbien. Daher war Bosnien-Herzegowina, dessen Annexion Wien 1908 für dauerhaft erklärt hatte, keineswegs ein Nebenschauplatz: Vor allem spekulierte Serbien auf den Zerfall der Donaumonarchie, um sich territorial bereichern zu können, was wiederum Russland als selbst ernannter Mentor der Südslawen nicht unberührt ließ. Destabilisierung zum Beispiel in Bosnien war für Belgrad eine verlockende Option, sodass die Frage, welche Rolle Serbien beim Attentat auf den österreichischen Thronfolger spielte, eigentlich nicht nur Wien hätte beschäftigen müssen. Aber das Attentat von Sarajevo war bereits der Funke, der die Lunte entzündete, die zwar noch vier Wochen brauchte, bis sie das Pulverfass erreicht hatte. Doch da sich niemand ernsthaft die Mühe machte, die glimmende Lunte rechtzeitig auszutreten, kam es zur Katastrophe.
    Weil mit dem Ersten Weltkrieg das alte Europa unterging, neigt man gerne zur Meinung, die Welt davor sei einfacher zu durchschauen gewesen als die neue. Die Konstellationen europäischer Politik waren in den beiden Jahrzehnten aber im Gegenteil ausgesprochen undurchsichtig und so vielfältig, dass monokausale Herleitungen des Krieges nicht weit führen. Zuletzt hat der britische Historiker Christopher Clark auf breiter Quellenbasis untersucht, wie es zum Krieg kommen konnte. Er betitelte seine Studie The Sleepwalkers , weil die europäischen Staatsmänner eine ganze Weile lang ziemlich unverdrossen wie Schlafwandler auf dem Dachfirst balancierten, ohne den unter ihnen befindlichen Abgrund zu sehen oder sehen zu wollen. Als die Kämpfe schließlich begannen, fühlten sich alle Kriegsteilnehmer als Angegriffene.

Zarentochter Anastasia überlebte das Massaker an den Romanows – IRRTUM!
    Am Abend des 17. Februar 1920 fischten Berliner Polizisten am heutigen Verteidigungsministerium in der Dunkelheit eine junge Frau aus dem Landwehrkanal. Sie hatte sich in offenbar selbstmörderischer Absicht von der Bendlerbrücke ins eiskalte Wasser gestürzt. Die Frau überlebte und schwieg fortan auf alle Fragen, die man ihr zu ihrer Herkunft stellte. Wochen später wurde sie in die städtische Irrenanstalt im Norden der Stadt eingeliefert, wo sie zwei Jahre blieb. Dort brachten eine Mitpatientin und Pfleger das Gerücht auf, die mysteriöse junge Dame sei keine der üblichen in der Großstadt Gestrandeten, sondern in Wahrheit eine der russischen Zarentöchter, genauer: die Jüngste von ihnen, Anastasia. Sie habe das Massaker an ihrer Familie überlebt und fliehen können.
    Weltweit hatte die Ermordung der Zarenfamilie im Gefolge der Russischen Revolution für Aufsehen und Bestürzung, vielerorts aber auch für Befriedigung gesorgt. Das alsbald aufgekommene Gerücht, nicht alle Familienmitglieder seien erschossen worden, gab Zeitungen und Illustrierten Stoff für eine umfassende Berichterstattung, denn die Welt des Glamour war damals noch vornehmlich in den höchsten Adelskreisen zu Hause. Nach ihrer Entlassung aus der Irrenanstalt bezeichnete sich die verhinderte Selbstmörderin dann selbst als Zarentochter Anastasia und begann eine bemerkenswerte Karriere, die sie auf Adelssitze im In- und Ausland und bis in die USA brachte. Die Spekulationen und Diskussionen um die Frage, ob es sich wirklich um die Zarentochter handelte oder nicht, bewegten ganz Europa, und die Pressemedien nutzten den Fall zur Steigerung von Auflage und Profit. In allen Details wurde der Fall der Anastasia ausgebreitet, eine Phalanx an mehr oder weniger verlässlichen Zeugen und Gutachtern aufgeboten. Als willige Kollaborateure dienten die mittlerweile über ganz Europa verstreut lebenden Mitglieder des einst umfänglichen Hofstaates. Die Tatsache, dass die mutmaßliche Zarentochter nicht gewillt oder in der Lage war, Russisch zu sprechen, diagnostizierte man als Trauma infolge der dramatischen Ereignisse, ebenso die Lücken ihrer Erinnerung. Viele weitere Merkwürdigkeiten – dass sie beispielsweise das Kreuzzeichen in der Kirche wie

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