Irrtum!: 50 Mal Geschichte richtiggestellt
international ordentlich Porzellan zerschlug und für viel Irritation sorgte. Seine Großmannssucht, sein Geltungsdrang und seine »Nibelungentreue« zu Österreich-Ungarn wiegen schwer. Gerade auf dem wohlgeölten Parkett der internationalen Diplomatie und zumal in krisenhaften Zeiten richtete er einigen Schaden an. Er gilt deswegen auch heute noch als gewissermaßen personifizierte Schuld am Desaster des Ersten Weltkriegs. Aber so gern Wilhelm sich sein »persönliches Regiment« zugutehielt und als Dreh- und Angelpunkt internationaler Politik verstand und verstanden sehen wollte, so begrenzt war seine Macht in Wirklichkeit. Bei allen markigen Sprüchen erwies sich Wilhelm außerdem als Leisetreter, sobald es ernst zu werden drohte, wie es bei mehreren Gelegenheiten bis hin zur Julikrise unmittelbar vor Kriegsausbruch der Fall war. Ohnehin regierte der deutsche Kaiser nicht absolut, und das Auswärtige Amt mit seinem umfangreichen Apparat verfolgte nicht stets dieselben Ziele wie das Staatsoberhaupt. Insbesondere im Vorfeld der Kriegserklärungen, als Europa im Juli 1914 am Abgrund entlangtänzelte, war Wilhelms Einfluss auf die deutsche Diplomatie gering.
Auch die beiden anderen gekrönten Häupter der Großmächte (nur Frankreich war eine Republik) herrschten keineswegs unumschränkt: der englische König mit erheblich weniger, der russische Zar mit mehr Spielraum als der deutsche Kaiser. (Die drei waren übrigens Cousins.) Die maßgeblichen Politiker der Länder und ihre innen- wie außenpolitischen Grundsätze und Absichten – und deren Einschätzungen, ob das Risiko eines Krieges akzeptabel sei – spielten also durchaus eine wichtige Rolle. Ohnehin machten die Monarchen zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedlichen Gebrauch von ihren Möglichkeiten: Während der britische König Georg V. seit seiner Thronbesteigung 1910 wenig Initiative zeigte, begann in jenen Jahren Zar Nikolaus II. auf die Außenpolitik seines Landes Einfluss zu nehmen, allerdings wenig zielgerichtet. Wilhelm II. schließlich beklagte sich intern, und durchaus nicht zu Unrecht, bei außenpolitischen Entscheidungen umgangen zu werden – was seine Regierung mit gutem Grund tat, weil der Kaiser mitunter irrlichterte. Der österreichische Kaiser Franz Joseph schließlich war ebenfalls nicht die treibende Kraft der Wiener Außenpolitik.
In den europäischen Hauptstädten kamen zu den Monarchen und maßgeblichen Ministern politische Parteiungen, die außenpolitisch bestimmte Richtungen vertraten, sowie die Diplomaten, die mitunter erstaunlichen Spielraum und Einfluss besaßen. Schon die Entscheidungsträger sind also nicht so genau auszumachen, hinzu kommen Wechsel in den Ämtern – in Paris gaben sich die Minister die Klinke geradezu in die Hand. Aber auch in Berlin und Sankt Petersburg wurde nicht immer dieselbe außenpolitische Linie verfolgt, zumal sich die Koordinaten verschoben, etwa durch Kriege und andere Konfrontationen. Ganz insgesamt gaben weder Politiker noch Diplomaten noch die gekrönten Häupter allzu viel darauf, den europäischen »Laden« zusammenzuhalten, sondern verfolgten vornehmlich Einzelinteressen.
Alles in allem bestimmte ein überaus komplexes Geflecht von Bedingungen die europäische Politik in den Jahren vor Kriegsausbruch. Keineswegs war es so, dass die europäischen Mächte ihre Politik allein nach Deutschland ausrichteten, weil sie es als Bedrohung ansahen. In England zum Beispiel gab es durchaus gewichtige Stimmen, die Russland als die eigentliche Bedrohung ausmachten und sich für eine Annäherung an das Deutsche Reich aussprachen. Als Kolonialmacht verstand man auf den Britischen Inseln Russland und Frankreich als die größeren Rivalen, selbst die deutsche Aufrüstung fiel da lange Zeit gar nicht so sehr ins Gewicht. Russland wiederum war uneins hinsichtlich seiner geopolitischen Ausrichtung: Die einen sahen Asien als wichtigsten Wirkungsraum, den anderen waren der Schauplatz Balkan und das Ideal panslawischer Politik wichtiger. Selbst in Frankreich, wo die Rückgewinnung der 1870/71 an das eben gegründete Kaiserreich verlorenen Provinzen Elsass und Lothringen auf der Agenda ganz oben stand, gab es auch eine Fraktion für eine Annäherung an den östlichen Nachbarn. Der deutsche Drang zur Weltgeltung wurde ohnehin keineswegs überall grundsätzlich abgelehnt und die außenpolitischen Einlassungen des Kaisers nicht übermäßig hoch gehängt – da war der mediale Flurschaden oft größer als der
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