Irrtum!: 50 Mal Geschichte richtiggestellt
der Stadt unruhig zu werden drohte. Der Befehl zur Exekution ging laut Jurowski am 16. Juli frühmorgens telegraphisch aus Perm ein. Ob darüber hinaus der Befehl direkt vom Obersten Sowjet in Moskau kam, ist umstritten und lässt sich nicht mehr abschließend klären. Auch wenn immer wieder behauptet wird, Lenin höchstselbst habe diese Anweisung gegeben – und das sehr gut möglich ist –, so fehlt doch ein eindeutiger Beweis.
Dass sie umgebracht werden sollten, erfuhren die Romanows nur Sekunden bevor das Feuer eröffnet wurde. Die Erschießung war zwar gut vorbereitet und jeder der Schützen hatte genauen Befehl, wen er zur Strecke bringen sollte. Der Regierung war daran gelegen, die Sache rasch über die Bühne zu bekommen, aber das gelang nicht recht. »Alexej, drei seiner Schwestern und Botkin (der Leibarzt der Familie, der freiwillig bei ihnen geblieben war) lebten noch. Sie mussten aus nächster Nähe erschossen werden.« Wie Jurowski weiter berichtet, wurde es ein grausames Gemetzel, in dem auch Bajonette zum Einsatz kamen, die ihre liebe Mühe hatten mit den Korsagen, in die Edelsteine eingenäht waren. Die Leichen wurden zunächst in den Schacht eines aufgelassenen Bergwerks bei dem Dorf Koptiaki nordöstlich von Jekaterinburg gebracht, tags darauf jedoch geborgen. Zwei Leichen wurden verbrannt, die anderen, mit Schwefelsäure unkenntlich gemacht, im Waldboden vergraben.
Im Moskauer Rat der Volkskommissare unter Lenins Leitung war die Nachricht aus Jekaterinburg am Abend des 18. Juli nur eine kurze Unterbrechung wert, bevor man sich wieder einem neuen Gesundheitsgesetz zuwandte. Am 20. Juli wurde die Erschießung des Zaren, nicht aber der gesamten Familie, offiziell bekannt gegeben. Zarin und Kronprinz seien an einen sicheren Ort gebracht worden, hieß es da, während die vier Töchter nicht einmal erwähnt wurden. Das geschah vermutlich mit Rücksicht auf das Ausland, insbesondere des Deutschen Reiches, da die Zarin eine gebürtige Prinzessin von Hessen-Darmstadt war. Diese Desinformation und weitere Umstände ließen über Jahrzehnte Raum für Spekulationen und Gerüchte aller Art.
Prompt wurde Alexandra von verschiedenen Zeugen gesehen, auch zusammen mit ihren Kindern. Besonders beliebt aber war die Geschichte einer verletzten und verwirrten jungen Frau, die sich als Zarentochter bezeichnete. Mal war sie ihren Mördern entkommen, weil der eingenähte Schmuck sie geschützt hatte und sie beim Transport der Leichen in den Wald hatte fliehen können, mal hatte sie vor der Hinrichtung aus der Villa Ipatjew fliehen können, mal war sie auf der Zugfahrt nach Perm entwischt. Als Jekaterinburg eine Woche nach den Ereignissen in die Hände der Gegenrevolutionäre geriet und der Fall Nikolaus amtlich untersucht wurde, ließen die Berichte die Möglichkeit offen, dass allein der Zar und möglicherweise sein Sohn getötet, die Frauen der Familie aber verschont worden waren. Und die Information, zwei der Leichen seien verbrannt worden, bot ebenfalls Raum für Spekulationen: Hatte Jurowski damit erklären wollen, wieso das Grab nicht alle Leichen enthielt? Waren also tatsächlich zwei der Opfer gar nicht tot, waren geflohen, weshalb der Kommandeur des Erschießungskommandos aus Verlegenheit behauptet hatte, die fehlenden Leichen seien verbrannt worden?
Einstweilen ging der Untergang der Romanows weiter. Großfürst Michail, den jüngeren Bruder des Zaren, hatte man zusammen mit seinem britischen Sekretär bereits im Juni in der Nähe von Perm im Ural erschossen, tags darauf einige seiner Vertrauten sowie Zeugen. Am Tag nach der Ermordung der Zarenfamilie waren in Alapajewsk nahe Jekaterinburg weitere Romanows an der Reihe sowie Ende Januar 1919 in Petrograd, wie Sankt Petersburg nunmehr hieß, vier Großfürsten. Im Ganzen fielen der Ermordung durch die Bolschewiki achtzehn Mitglieder der vormaligen Herrscherfamilie zum Opfer.
Sich zur Zeit der Sowjetunion mit dem Schicksal der Zarenfamilie zu befassen oder sich gar auf die Suche nach den Gräbern zu machen war kaum ratsam. Das Ipatjew-Haus wurde Ende der Siebzigerjahre abgerissen – wie es hieß, habe es nur geringe historische Bedeutung. Heute befindet sich dort die Kathedrale auf dem Blut, eine Wallfahrtskirche für Anhänger der Monarchie. Ein Museum erinnert an die Zarenfamilie, die von der russisch-orthodoxen Kirche im Jahr 2000 heiliggesprochen wurde.
Das Grab mit den neun Leichen wurde erst 1991, ein halbes Jahr vor dem Ende der Sowjetunion,
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