Irrwege
haben wir den sogenannten ›Brunnen‹ konstruiert
– eine kleine Kammer im Berg, wo buchstäblich die Zeit stillsteht. Wer sich
darin befindet, existiert innerhalb der Begrenzung eines einzigen erstarrten Atemzuges,
eines Atemzuges, in dem nicht die Möglichkeit der Flucht enthalten ist. Der
Insasse der Zelle lebt weiter, aber – falls über einen längeren Zeitraum in
Gewahrsam gehalten – ohne sich äußerlich zu verändern, ohne zu altern. Am
Labyrinthwahn Erkrankte werden von uns nie lange festgehalten, nur so lange,
daß wir Gelegenheit haben, sie zu beraten und zu heilen.«
»Genial!« rief Alfred verwundert aus.
»Ja, nicht wahr?« bemerkte Haplo ironisch.
Ratlos und allein wanderte Marit durch die
Straßen, noch lange nachdem die Dunkelheit hereingebrochen war. Zahlreiche
Patryn hatten ihr angeboten, bei ihnen zu Gast zu sein, aber Marit betrachtete
sie argwöhnisch und lehnte ab.
Sie traute ihnen nicht, war unfähig, ihren eigenen
Landsleuten zu vertrauen. Ihre Stimmung sank noch tiefer. Sie fühlte sich
einsamer denn je.
Ich sollte Vasu suchen, dachte sie. Ihn warnen,
aber wovor? Meine Geschichte hört sich völlig unglaubhaft an, absurd. Schlangen
in der Gestalt von Patryn. Ein Angriff auf diese Stadt. Das Letzte Tor
versiegelt…
»Und weshalb sollte ich Vasu trauen?« fragte sie
sich. »Vielleicht ist er ihr Verbündeter. Ich muß auf meinen Gebieter warten,
so lauten meine Anweisungen. Aber… Aber…«
Dem Bösen anheimgefallen…
Haplo würde ihr glauben. Er als einziger würde
ihr glauben, wüßte, was zu tun wäre. Doch zu ihm gehen hieße, Xars Vertrauen zu
mißbrauchen.
Ich bin gekommen, um meine Tochter zu suchen…
Ihre Tochter, das Kind, das sie vor vielen
Jahren weggegeben hatte. Was wurde aus ihr, aus allen Töchtern, Söhnen der
Patryn, wenn das Letzte Tor verschlossen war, das Tor in die Freiheit? Wenn
Haplo die Wahrheit gesagt hatte?
Marit richtete ihre Schritte zu dem Verlies im
Berg.
Die Straßen lagen still und dunkel. Die Patryn
verschanzten sich und ihre Familien in ihren Behausungen gegen das körperlose
Böse, das mit dem Nachtwind durch Abri wehte.
Sie ging an den Häusern vorbei, hörte die
Stimmen hinter den erleuchteten Fenstern. Familien, geborgen, in Sicherheit.
Noch…
Sie ging schneller, angespornt von wachsender
Angst.
Abris Anfänge lagen im Berg, aber kein Patryn
wohnte mehr dort. Die Zeit, da man sich wie gehetztes Wild in Höhlen
verkriechen mußte, war für sie vorbei.
Die Eingänge hatte man verschlossen, erhielt sie
von einem Patryn auf ihre Frage zur Antwort. Nur in Zeiten der Bedrängnis
dienten sie noch als Zufluchtsort. Ein Eingang blieb offen, der Eingang zu den
Verliesen.
Darauf ging Marit zu, unterwegs überlegte sie,
was sie zu den Wachen sagen sollte, damit man ihr Einlaß gewährte. Erst das
brennende Jucken am Arm brachte ihr zu Bewußtsein, daß sie nicht die einzige
war, die der Höhle einen Besuch abzustatten beabsichtigte.
Marit konnte den Eingang sehen, ein Fleck
tiefster Schwärze in dem weichen, milchigen Dunkel der Nacht.
Zwei Patryn standen davor Wache. Nur, daß es
keine Patryn waren. Keine Runen schimmerten auf ihrer Haut.
Marit segnete die Magie für ihre Warnung.
Andernfalls wäre sie dem Feind geradewegs in die Arme gelaufen. In den Schatten
verborgen, beobachtete sie und lauschte.
Vier Gestalten trafen sich vor dem
Höhleneingang. Die Stimmen der Posten, leise und zischelnd, durchschnitten die
Stille.
»Ihr könnt unbesorgt näher kommen. Alles ruhig.«
»Sind die Gefangenen allein?«
Marit erkannte Sang-drax’ Stimme.
»Allein und eingekerkert in einem Zeitbrunnen«,
lautete die Antwort.
»Welch eine köstliche Ironie«, bemerkte Sang-drax.
»Indem sie diejenigen ins Gefängnis werfen, die ihnen helfen könnten, sind die
Patryn selbst für ihren Untergang verantwortlich. Wir vier gehen hinein. Ihr
haltet Wache und sorgt dafür, daß wir nicht gestört werden. Ich nehme an, ihr
wißt nicht, wo sich die Gefangenen befinden?«
»Nein. Es wäre unklug gewesen, sie zu begleiten.
Man hätte uns enttarnt.«
Sang-drax zuckte mit den Schultern. »Macht
nichts. Ich werde sie finden. Der Geruch nach warmem Blut dringt bis hierher.«
Die falschen Patryn lachten.
»Wirst du lange brauchen?« fragte einer.
»Sie verdienen einen langsamen Tod«, sagte ein
anderer. »Besonders der Drachenmagier, der unseren König getötet hat.«
»Es muß schnell gehen, leider«,
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