Irrwege
Es war stark genug, daß sie innehielt, um ihre Gedanken und Gefühle
einer sorgfältigen Prüfung zu unterziehen; genauso wie sie vor einem Kampf
gründlich ihre Waffen zu überprüfen pflegte. Damals, ihre gemeinsame Zeit…
Der Tag war lang und schwer gewesen, ein
einziger verbissener Kampf – nicht gegen eins der Ungeheuer aus dem Labyrinth,
sondern gegen das Labyrinth selbst. Es schien, als wären sogar Erde und Fels
von derselben niederträchtigen Magie besessen, wie sie das Getto beherrschte,
in dem die Patryn ihr Leben fristeten. Ihr Ziel – das nächste Tor – lag auf
der anderen Seite eines langgestreckten, steilen und scharfgratigen
Hügelrückens; sie hatte es aus der Krone des Baums gesehen, in dem sie
übernachtete, konnte es aber nicht erreichen.
Auf ihrer Seite war die Felswand glatt,
spiegelglatt, beinahe unmöglich zu ersteigen. Nur beinahe, nicht absolut
unmöglich. Nichts im Labyrinth war je absolut unmöglich. Stets gab es ein
Fünkchen Hoffnung, das sich nur allzuoft als hämisches, trügerisches Irrlicht
entpuppte. Noch einmal die Zähne zusammenbeißen, und du hast es erreicht. Noch
einmal alle Kräfte aufbieten, und du bist am Ziel. Noch einen Gegner besiegen,
noch ein Hindernis überwinden, dann…
Und diese Felsmauer war ein Beispiel dafür. Bot
sich auf den ersten Blick nicht einmal dem Auge Halt, offenbarte genaueres
Hinsehen winzige Risse und Sprünge, in die man die blutenden Fingerspitzen
hineinzwängen konnte. Und gerade wenn sie sich oben angekommen glaubte, glitt
ihr Fuß ab – oder hatte der Spalt, in den sie die Zehen krallte, sich böswillig
geschlossen? Wieso verwandelte solider Stein sich plötzlich in körnigen Grus?
War Schweiß der Grund, daß ihre Hand abrutschte, oder sickerte die schmierige
Feuchtigkeit aus dem Fels?
Sie schlitterte fluchend das ganze Stück wieder
nach unten; Pflanzenbüschel und Sträucher, nach denen sie verzweifelt angelte,
stachen ihr unsichtbare Dornen in die Finger oder blieben ihr mitsamt der
Wurzel in der Hand und begleiteten sie auf ihrer Rutschpartie.
Einen vollen Tag lang plagte sie sich – ohne
Erfolg. Es wurde Abend, und sie war ihrem Ziel keinen Schritt näher als am
Morgen. Sämtliche Knochen und Muskeln schmerzten; an Händen und Füßen (sie
hatte zum Klettern die Stiefel ausgezogen) war die Haut aufgeschürft und
blutete. Sie hatte Hunger, aber nichts zu essen, und zum Jagen war keine Zeit
gewesen.
Unten an der Felswand floß ein Bach vorbei.
Marit badete Hände und Füße in dem kühlen Wasser und hielt Ausschau nach
Fischen, die für eine Abendmahlzeit herhalten konnten. Es gab welche, aber
plötzlich brachte sie nicht die Energie auf, sie zu fangen. Sie war müde,
viel müder, als sie von Rechts wegen hätte sein dürfen, und sie wußte, es war
die Müdigkeit der Verzweiflung – eine Müdigkeit, die verhängnisvoll sein
konnte im Labyrinth, denn sie bedeutete, man hatte aufgegeben. Sie bedeutete,
man suchte sich ein ruhiges Fleckchen, legte sich hin und starb.
Während sie die Hand durchs Wasser schwenkte –
von der Kälte gefühllos geworden, gefühllos wie alles in ihr –, fragte sie
sich, wozu das alles? Wenn ich diesen Berg ersteige, kommt dahinter der
nächste. Höher, steiler.
Sie beobachtete, wie das Blut aus den Schnitten
an ihren Händen quoll und vom Wasser mitgetragen wurde. Geistesabwesend verfolgte
sie mit den Augen die zerfließenden Schlieren – rubinrot im schräg einfallenden
Sonnenlicht – bachabwärts bis zu einem Vorsprung am Ufer. Als sie den Kopf hob,
sah sie die Höhle.
Eine kleine Höhle, in der Böschung. Sich
verkriechen und ungestört sein. Schlafen, so lange sie wollte. Vielleicht für
immer.
Marit stieg ins Bachbett und watete hindurch.
Auf der anderen Seite angekommen, hielt sie sich im Schutz der überhängenden
Bäume. Höhlen im Labyrinth hatten meistens Bewohner, doch ein Blick auf ihre
eintätowierten Runen sagte ihr, falls es jemanden mit Besitzansprüchen gab,
war er nicht besonders groß oder gefährlich. Wahrscheinlich konnte sie kurzen
Prozeß mit ihm machen, besonders wenn es ihr gelang, ihn zu überraschen. Oder
warum sollte ihr nicht ein einzigesmal im Leben das Glück hold sein, und die
Höhle war leer.
Nichts zu hören oder zu sehen, auch die Runen
gaben keine Warnung. Marit sprang ans Ufer und war mit zwei großen Schritten am
Eingang. Sie hatte das Messer gezogen, aber aus reiner Gewohnheit, nicht, weil
sie
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