Isabelle
über die Weinberge wandern, lange, schnurge rade, wellige Reihen von Rebstöcken, ein Meer gedrun gener Stämme und kahler Zweige. Die Sonne schien, die Atmosphäre eines frühen Frühlingsanbruchs hing in der Luft, und weiter oben auf dem Hang bewegten sich die Gestalten der Winzer in Jägergrün im Rhythmus des Kli ckens ihrer pneumatischen Astscheren.
»Sie sind bereits von ihrer Dienststelle informiert wor den«, sagte Kleiweg. »Wir dürfen uns ein bisschen umse hen.«
Sie folgten der Einfahrt durch die Allee aus hohen Zyp ressen und hielten vor dem Haus. Ohne die Geranien und die blühenden Sträucher wirkte es kälter und unfreundli cher als bei Max’ erstem Besuch. Im oberen Stockwerk waren die meisten Fensterläden geschlossen. Aus einem der Schornsteine kringelte dunkler Rauch hervor, als werde der darunter liegende Kamin mit feuchtem Holz geheizt.
Sie warteten unter dem Säulenportal. Max lächelte dem Mädchen zu, das er vom letzten Mal her wiedererkannte. Diesmal trug sie statt der schwarzen Baumwollbluse ei nen schwarzen Wollpullover unter ihrer weißen Schürze. Sie ließ sie in der Eingangshalle warten und ging über die alten Steinfliesen davon. Kurze Zeit später kam Christine Lafont durch den Flur und blieb unter dem Sandsteinbo gen am Ende stehen. Im Herbst, auf der Terrasse, hatte sie klapperdürr ausgesehen, mit eckigen, mageren Schul tern, aber jetzt verbarg sie ihre fehlenden weiblichen Formen unter einem weiten Winterkleid aus weichem blauem Mohair. Noch immer fiel ihr unzufriedenes Ge sicht mit den dünnen Lippen und der harten Kinnlinie auf, doch ihre Augen, die sie damals hartnäckig hinter einer Sonnenbrille verborgen hatte, erwiesen sich als ihr schönstes Attribut. Sie waren warm und bernsteinfarben mit goldenen Flecken darin, überschattet von langen Wimpern.
»Bonjour Madame!«, rief Max überschwänglich, als trä fe er eine alte Freundin wieder. Mit ausgestreckter Hand ging er auf sie zu.
Sie ignorierte die Hand. »Was wollen Sie hier noch?«
»Das hier ist Inspecteur Kleiweg von der niederländi schen Polizei«, stellte Max vor. Kleiweg machte eine leichte Verbeugung.
»Zweifellos sind Sie von der Gendarmerie darüber in formiert worden, dass mein Mann nicht zugegen ist«, sagte Christine unfreundlich. »Ich verstehe nicht, was Sie hier wollen. Wenn es noch immer um diese Erbschaftsan gelegenheit geht …«
Max betrachtete das helle Rechteck an der Wand neben dem Stützbogen, wo jahrelang ein Gemälde oder ein Porträt gehangen haben musste, bevor es unlängst durch einen Druck mit dem Motiv einer blauen Blume ersetzt worden war, einer Gentiane Primavere, gerahmt und hin ter Glas, wie man sie in Andenkenläden zu kaufen bekam, aber zu klein, um den Schatten der Vergangenheit voll ständig zu verdecken. Er schaute zur Seite und sah, dass Christine seinem Blick gefolgt war und in einem Gefühl des Ertapptseins die Lippen aufeinander presste.
»Wetten, dass hier Ihr Schwiegervater hing?«, fragte er. »Der alte Raymond?« Er lächelte, als sie keine Antwort gab. »Raymond im Weinberg? Raymond auf seinem ers ten dampfbetriebenen Traktor?«
»Das Haus gehört jetzt mir«, antwortete sie.
Er nickte. »Machen Sie sich denn gar keine Sorgen?«
»Worüber sollte ich mir Sorgen machen?« Es klang he rausfordernd, und wieder verzog sie ungeduldig und wü tend den Mund, aber ihre Augen verrieten ihre Verletz lichkeit.
»Nun ja, die Polizei will Ihren Mann verhaften, Ihr Haus wird durchsucht, Ihr Mann ist spurlos verschwun den.«
»Das klärt sich schon alles wieder auf, es handelt sich lediglich um einen Irrtum. Wir leben nicht in einem Poli zeistaat, wir haben das Recht auf polizeilichen Schutz, so wie jeder französische Bürger.«
»Außer wenn der Bürger Straftaten begeht.« Max wies mit einem Kopfnicken auf die Wand. »Sie können die Vergangenheit nicht einfach mit einem Blümchen zude cken.« Er schaute ihr in die Augen. »Vielleicht haben Sie persönlich ja nie etwas mit diesen Dingen zu tun gehabt. In diesem Fall können Sie froh sein, dass Sie keine gute Ehe geführt haben.«
Das Gold in ihren Augen blitzte auf und ihre Verletzlichkeit verschwand, als schöpfe sie Kraft aus ihrer Empörung. »Ich brauche mich nicht beleidigen zu lassen«, herrschte sie ihn an. »Verlassen Sie sofort mein Haus, sonst rufe ich die Polizei!«
Kleiweg sagte in seinem förmlichen, steif klingenden Französisch: »Die Polizei weiß, dass wir hier sind, Madame. Dies ist ein offizieller
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