Isabelle
ändern.
Carolien, ihre Mutter, saß am Marmortisch in ihrem hellen Wohnzimmer. Mit dem leichten Lilaton in ihrem grauen Haar, der glänzenden Shantungseide ihres Kleides und der doppelreihigen Perlenkette um den Hals bot sie wie stets den Anblick einer Dame. Mit kleinen Schlucken trank sie von ihrem chinesischen Tee, während ihre Haushälterin die Reste eines Mittagessens abräumte.
»Hast du schon etwas gegessen?«, fragte sie, als Judith hereinkam.
»Ich habe keinen Hunger.« Judith trat an das massive Büfett und schenkte sich einen trockenen Sherry in ein schmales, hohes Glas.
»Bets, machen Sie doch bitte ein paar Sandwiches für sie zurecht«, sagte ihre Mutter. Die Haushälterin nickte und verschwand.
»Du darfst dich nicht vernachlässigen, Kind«, sagte Carolien. »Du hast abgenommen.«
Judith hielt den Sherry in der Hand. Sie schaute ihre Mutter an und wusste nicht mehr, was sie hier eigentlich wollte, außer dass sie nicht in ihr leeres Haus zurückkehren mochte. »Heute Abend hole ich das schon wieder auf. Wir sind mit den van Dooms im La Provence zum Essen verabredet.«
»Was willst du anziehen?«
»Ich habe mir was Neues gekauft.«
»Meinst du Herbert van Doorn von der Credit Lyonnais?«
»Ja, aber was spielt das schon für eine Rolle«, antwortete Judith matt.
Carolien runzelte die Stirn. »Was ist denn los?«
»Ich kann es dir nicht erklären.«
»Das ist doch Unsinn. Ich kenne mich genauso gut mit der Firma aus wie du.«
»Wir könnten für ein Butterbrot einen Betrieb in der ehemaligen DDR kaufen, aber Ben will noch nicht einmal den ersten großen Auftrag aus Deutschland annehmen.«
Ihre Mutter spitzte die Lippen und antwortete mit ihrer Standardfloskel: »Hör mal, mein Kind, mit Bram hatte ich genau dieselben Probleme, das weißt du ja. Gott hab ihn selig. Jetzt bist du an der Reihe.«
Judith schüttelte den Kopf. Sie betrachtete die eingerahmten Fotos von ihren Eltern und von sich selbst in verschiedenen Phasen ihres Lebens, als Kind, Jugendliche und Erwachsene. Ihr Vater im Smoking, als er vor sechs Jahren eine Auszeichnung in Empfang nahm, und auf verschiedenen Fotos in zu eng sitzenden dunklen Anzügen zwischen anderen führenden Mitgliedern der Handelskammer und des Unternehmerbundes, wo er sich nie wirklich in seinem Element gefühlt hatte. Die Fotos von Bram und Ben an Bord von Bens Segelboot mit dem berühmten Riesenkarpfen standen nicht dabei. Das einzige Foto von Ben war im Direktionsbüro ihres Vaters aufgenommen worden, als er nach dessen Tod offiziell den Posten als Direktor übernahm. Darauf trug er einen hellen Sommeranzug und wirkte selbstsicher, aber auch ein bisschen widerspenstig. In seinen Augen spiegelten sich Mitleid und Spott wider, als befände er sich nur auf der Durchreise, unterwegs zu einem Festival, und spielte dabei zum Spaß in der örtlichen Herberge eine kleine Gastrolle.
»Ada de Hoog kommt mich gleich abholen«, sagte Judiths Mutter. »Wir wollen Teresa besuchen. Sie ist gestern ins Krankenhaus gekommen. Wonach guckst du?«
Das Foto fiel um, als Judith es an seinen Platz zurückstellte. Sie nahm es wieder auf und klappte die silberfarbene Stütze heraus, sodass es stehen blieb.
»Vielleicht brauchst du Hilfe?«, meinte Carolien.
»Eher einen jungen Liebhaber.«
Ihre Mutter machte ein schockiertes Gesicht. »Judith!«
Judith drehte sich um. »Was meinst du denn damit, dass ich Hilfe bräuchte?« Sie trank ihr Glas aus und stellte es mitten zwischen die Fotos.
»Habt ihr euch gestritten?«
»Ist doch egal.« Judith schaute zu Bets hinüber, die hereingekommen war und eine kleine Silberplatte mit diagonal geschnittenen Sandwiches auf den Tisch stellte. Ihre Mutter warf einen anerkennenden Blick auf den Belag aus Lachsscheiben, Tomaten und Salatblättchen.
»Vielen Dank, Bets«, sagte sie. »Machen Sie doch bitte einen kleinen Obstkorb mit Trauben, ein paar Klementinen und Nüssen zurecht und legen Sie mir meinen braunen Mantel heraus, ich fahre gleich zu einem Krankenbesuch.« Sie schaute Judith an. »Hast du nicht Lust, mich zu begleiten?«
»Nein, danke«, erwiderte Judith. Bets schloss die Tür hinter sich. »Was hast du damit gemeint, ich bräuchte vielleicht Hilfe?«
»Na ja, ich weiß ja, wie du über Arzte denkst …«
Judith gab einen sarkastischen Laut von sich. »Einen Moment lang habe ich schon geglaubt, du würdest mir einen Besuch beim Psychiater vorschlagen. Aber was soll ich bei einem Arzt? Schließlich bin ich ja nicht
Weitere Kostenlose Bücher