Isartod
Sofa lag ein buntes Magazin. Lieblingslektüre seiner Frau, wenn sie mit dem Korrigieren der Schulhefte fertig war. Er blätterte gedankenverloren darin herum. Auf jeder zweiten Seite Schwangerschaftsbäuche. Warum ist so eine Fußballkugel so wichtig? Das Leben ist doch auch so ganz schön. War es bei ihnen jedenfalls, bis Connys biologische Uhr zu ticken begonnen hatte. Immer lauter. Inzwischen waren es Presslufthammerschläge, die alles zwischen ihnen betäubten. In seiner Wahrnehmung zumindest. Aber die zählte im Moment ja nicht.
Dosi räumte Umzugskartons aus. Are you lonesome tonight? hallte es von den noch immer nackten Wänden. Sie schwitzte in ihrem ausgebeulten Jogginganzug, als sie versuchte, die Topladerwaschmaschine in ihrem kleinen Bad zu verschieben. So ging die Tür nicht zu. »Ist doch wurscht«, dachte sie plötzlich. Sie ließ die Maschine, wo sie die Jungs vom Lieferservice abgestellt hatten, ging in die Küche und holte sich eine Cola aus dem Eisfach.
Hummel hatte sich gerade ein Tegernseer aufgemacht. Mit dem Feuerzeug. Der Kronkorken war durchs offene Küchenfenster geflogen und klickerte lustig auf dem Gehweg. Hummel grinste und begann zu schreiben.
Liebes Tagebuch,
heute Vormittag habe ich eine Grenzerfahrung gemacht. Definitiv. Jetzt habe ich so oft mit Toten zu tun, und doch war das heute etwas ganz anderes. Als ich die schlaffe Haut mit den stachligen Borsten berührt habe, hab ich gemerkt, dass ich am Leben bin. Ich weiß, das klingt jetzt komisch. Aber es war genau so. Und als in diesem Moment noch die Sonne durch die Wolken brach – ein Zeichen. Eine Sau in der Isar versenken, das ist mal was ganz anderes. Dosi übrigens auch. Und sie tanzt Rock ’n’ Roll! Dosi, der fliegende Elefant! Man soll Leute ja nicht nach dem Aussehen beurteilen. Na ja, Beate vielleicht schon. Bei ihr ist die äußere Schönheit der Spiegel ihrer inneren Schönheit. Irgendwann möchte ich mal nicht nur romantisch denken, sondern auch romantisch sein. Irgendwann.
Üben kann ich das ja schon mal auf dem Papier. Und hier nicht die laute Stimme eines testosterongesteuerten Bullenmachos erschallen lassen, sondern das feine Organ eines lebensweisen Kriminalers, der mit sorgenvollen Augen und seelenvoller Melancholie auf seine Stadt blickt. Der für das Gute kämpft, ohne sich von eigenen Verlusten beirren zu lassen. Der es eigentlich verdient hätte, von ganzem Herzen geliebt zu werden. Ich werde Zeugnis abgeben von meiner zerklüfteten Seelenlandschaft mit einem wehmütigen Rückblick aus der Zukunft auf das, was hätte sein können, wenn die Umstände glücklicher gewesen wären. Oder so.
Ohne Titel
In meinen Augen ist die Stadt am Ende. Also über weite Strecken. Ich sehe mehr als das, was uns die Hochglanzbroschüren und Bildbände vorgaukeln: München, das charmante, lebenslustige Millionendorf im Jahre 2032. So viele Jahre sind ins Land gegangen, mein fünfzigsterGeburtstag war erst vor ein paar Wochen. 2005 hab ich diesen Job hier unter Mader angefangen. Mader ist inzwischen steinalt, wohnt immer noch in Neuperlach und hat immer noch einen Hund Bajazzo. Inzwischen wahrscheinlich der dritte.
Heute streiche ich im Büro früh die Segel, weil ich noch was vorhabe. Ich verlasse heute das Präsidium schon um halb sieben. Wären Beate und die Kinder noch zu Hause, würden sie staunen, wenn ich vor sieben da bin. Aber es wartet ja niemand mehr auf mich, also lasse ich mir Zeit. Ich gehe zu Fuß, um das alles aus der Nähe zu sehen. Meine Stadt. Coffeeshops, Backshops, Handyläden und Billigboutiquen. Dress yourself in plastic.
Und das Bier heute – ein Thema für sich. Trauerspiel in kleinen Dosen. 0,3 Liter, formerly known as Halbe, aber twice the price. Coffee to go, Haxn to go, Beer to go. In den Biergärten sind die Krüge aus Lexan. Nicht, weil das bei Schlägereien weniger wehtut, sondern wegen neuer Schallschutzbestimmungen. Seit 2030 ist echtes Glas auf allen Freischankflächen verboten. Auf dem Oktoberfest sowieso.
Ich habe die Maximilianstraße erreicht. Luxuslimousinen und bratzige Neureiche, hingegossen auf Caféhausstühlen unter Wärmepilzen. Falls mal ein kühler Abendhauch käme. Soll doch ein Orkan heraufziehen und sie alle wegpusten! Mit Wehmut sehe ich die Trambahnschienen. Die braucht heute keiner mehr. Spätestens mit der letzten Tram war das alte München abgehakt. Schließlich erreiche ich die Maximilianbrücke. Ich sehe auf die Isar hinab. Ins goldene Wasser. Der Abendhimmel
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