Isartod
er in einem Buch.
Als Charly das Geräusch hörte, war es schon zu spät. Er schaffte es gerade mal bis zur Schlafzimmertür, als der erste Nagel ihn traf. Tschktschaktschak trafen ihn die Nägel aus dem Niethammer. Er spürte den Schmerz kaum, so groß war sein Schock. Wie gelähmt. Er hätte sich aber auch nicht mehr bewegen können, denn die Geschosse prasselten wie Hagel auf ihn ein und nagelten ihn an die Rigipswand. »Na, mit mir hättest du nicht mehr gerechnet?«, fragte der Schütze im blauen Monteursanzug. Aber Charly konnte ihn schon nicht mehr hören. Auch nicht das Aufjaulen der Handkreissäge.
Franz legte das Buch auf den Tisch und musste grinsen. Das hatte was. Heimwerkerhorror. Baumarkt-Slasher. Richtig gut gefiel ihm die Sache mit dem Fleischwolf im Schlachthof. Super. Und wie passend. Genau sein Milieu. Sehr inspirierend diese Lektüre. Das Buch hatte er in dem Antiquariat in der Thalkirchner Straße gekauft. Eine Fundgrube für Abseitiges.
Franz nahm einen großen Schluck Whisky und dachte nach. Woher kam das alles? Er machte eine Zeitreise indie Vergangenheit. Er sah es genau vor sich: Edelweißstraße 102, zweiter Hinterhof, dritter Stock. Seine Familie, die Millers: Mama, Papa, Opa, sein Bruder Freddi, seine Schwester Sophia und er selbst, das Nesthäkchen. Die Metzgerdynastie. Der Laden an der Ecke zur Tegernseer Landstraße. Eine Goldgrube schon damals. Und die Millers betrieben schon immer ein lukratives Nebengeschäft: Geld eintreiben, unliebsame Mieter vor die Tür setzen und Ähnliches. Allerdings ohne ihn. Neben dem Metzgerhandwerk galten all seine Ambitionen der Kunst. Er wollte an die Akademie und malte in jeder freien Stunde.
Es war dieser eine Abend, der ihn auf eine andere Spur brachte. Mama bereitete gerade das Abendessen zu. Der Rest der Familie saß im Wohnzimmer und sah sich eine Quizshow mit barbusigen Damen an. Papa bewachte das Telefon. Sie warteten alle auf die Zuschauerfrage und das Einblenden der Telefonnummer. Mama rief zum Abendessen. Aber nur Franz kam in die Küche und setzte sich an den großen Esstisch. Mama seufzte. »Komm, Franz, wir tragen die Teller ins Wohnzimmer.«
Im Wohnzimmer kämpfte sie mit den Tränen. Die Luft nikotinschwer, überall Bierflaschen und Energydrinks, zerlesene Zeitungen, ein umgekippter Aschenbecher. Klirrend stellte Mama die Teller auf den Wohnzimmertisch. Alle stöhnten auf.
»Mama, die Zuschauerfrage!«, empörte sich Sophia.
»Ich liebe dankbare Kinder«, sagte Mama leise und begann, den Eintopf auszuteilen.
Die treibende Kraft war damals sein Cousin Vitus, der an diesem Abend auftauchte. Ein Strippenzieher vor dem Herrn mit einem gewaltigen Mundwerk. »Oh, was sehen meine trüben Augen, gestresst von den hektischen Geschäften der Straße?«, begrüßte er sie. »Die Familie beiTisch. Eintopf nach eines harten Tages Arbeit. Ob für eine hungrige Seele noch ein Teller übrig ist?«
»Wie stehen die Geschäfte?«, fragte Papa und reichte Vitus eine Flasche Bier.
»Kann nicht klagen. Die Jugend ist gut bei Kasse. Anspruchsvoll. Nichts von dem billigen Zeug. Dröhnen wie die Reichen und Schönen.« Er grunzte zufrieden. Nachdem er seinen Teller zur Hälfte geleert hatte, wischte er sich den Mund und zog grinsend ein Bündel Geldscheine aus der Tasche. »Vom King. Ein Auftrag für euch. Ein Wirt in Sendling, der die Standgebühr nicht zahlen will.« Er musste lachen. »Standgebühr – das ist typisch für den King. Als ob es um eine Wurstbude irgendwo in Niederbayern geht. Hier ist München, Landeshauptstadt!« Vitus wedelte mit dem Geldbündel: »Heut Nacht. Den Wirt und sein Personal ein bisschen motivieren. Der Laden heißt Brezn & Bier. Ihr bleibt sitzen, bis die letzten Gäste weg sind, und dann nehmt ihr den Schuppen auseinander. Damit jeder weiß: Den King bescheißt keiner.« Dann drehte er sich zu Franz. »Du bist auch dabei, oder? Reichlich Stoff für deine Arbeit: Rache und Zerstörung. Mit ein bisschen Glück auch mal der Übergang vom Leben zum Tod. Auf solche Themen kann kein echter Künstler verzichten! Franz, verbinde das Nützliche mit dem Angenehmen. Nachts Geld verdienen, tagsüber malen. Blut – die Farbe des Lebens, der Liebe, des Todes, der Wirklichkeit.«
So hatte alles angefangen. Wie sehr er sich anfangs gewehrt hatte. Und doch hatte dieser Schwätzer Vitus recht gehabt. Er fand Gefallen daran. Auch an den Begleiterscheinungen: Macht, Geld, Koks, Alkohol. Eins nicht ohne das andere. Er malte schon damals
Weitere Kostenlose Bücher