Isau, Ralf - Neschan 03
eingestürzte Ostmauer unterbrach die kalte, glatte Geschlossenheit des sechseckigen Gebäudes.
Yonathans Schritte wurden noch vorsichtiger. Er schlich über den Platz, den Stab Haschevet fest in den Händen, vorbei an den Trümmern der Mauer, bis zu dem wabenförmigen Eingang. Er fühlte eine kalte Drohung von dem Gebäude ausgehen. Der Drang einfach wegzulaufen, wurde stärker. Noch einmal sammelte Yonathan seine Kräfte, dann baute er die blaue Aura des Stabes um sich herum auf. Sofort schwanden die Einflüsterungen des Auges. Er sprach ein stilles Stoßgebet und betrat den Schwarzen Tempel.
Diesmal war er nicht überrascht wie bei seinem letzten Besuch, als er das Innere des Gebäudes völlig intakt vorgefunden hatte, ohne die geringsten Anzeichen von Beschädigung. Er wusste, dass dieses Spiel mit seinen Sinnen zu Bar-Hazzats Strategie gehörte und zwang sich zur Ruhe. Dennoch glaubte er das Hämmern seines eigenen Herzens zu hören und das Tosen seines Atems. Vorsichtig schritt er voran.
Im Tempel hatte sich nichts verändert: Nach rechts hin erstreckte sich das flache Bassin, das sich fast über die ganze Breite der schmalen und hohen Halle hinzog. Das Wasser darin wirkte so ruhig wie die Oberfläche eines polierten Blutsteines. Yonathan umrundete das Südende des Beckens und ging langsam auf das gegenüberliegende Ende der langen Vorhalle zu. Dort befand sich der Durchgang zum Hauptraum des Tempels, um vieles weiter entfernt, als es die Außenmaße des Gebäudes zulassen dürften. Auch diese Öffnung hatte die Form einer Bienenwabe; sie glühte in karminfarbenem Licht, gespeist durch das Auge. Damals, vor gut dreieinhalb Jahren, hatte sich Yonathan dieses blendende Leuchten nicht erklären können, hatte versucht herauszufinden, was dahinter steckte, war dann aber, abgelenkt, in einen Nebenraum getreten.
Die Wegstrecke schmolz während des Gehens auf geheimnisvolle Weise zusammen und so befand er sich schnell auf der Höhe jener besagten Kammer, fast am Ende des Wasserbeckens. Heute würde er nicht den Fehler begehen und in den Raum treten, der ihn damals gefangen hatte und dann immer enger und schmäler geworden war, um ihn zu zerquetschen. Yonathan blieb am Eingang stehen und spähte vorsichtig hinein. In der Decke befand sich noch das Loch, durch das er entkommen war. Aber auf dem Boden – ein Schauer überlief seinen Rücken – lag seltsamerweise kein Schutt mehr, nur… die Flasche! Goels wundersames Fläschchen aus Schildpatt, das in Notzeiten nie versiegte, war auf dem sauberen Boden wie auf einem Präsentierteller platziert. Von oben strömte Tageslicht herein, ein heller Kegel, der das schmerzlich vermisste Stück deutlich hervorhob – ein kostbares Ausstellungsstück.
Eine Falle! dachte Yonathan. Er würde den Raum kein zweites Mal betreten. Aber das Fläschchen…? Es gehörte nicht hierher, nicht an diesen verfluchten Ort. Der Stabträger konzentrierte die Kraft der Bewegung auf seinen rechten Arm und wie von unsichtbaren Fäden gezogen, ruckte der Behälter kurz, rutschte ein Stück über den Boden und flog dann pfeilschnell in Yonathans Hand. Während er die Flasche an seinem Gürtel befestigte, genoss er das Gefühl einen ersten kleinen Sieg errungen zu haben. Doch als er sich umwandte, um seinen Weg fortzusetzen, stand er einer Wand gegenüber.
Am liebsten hätte sich Yonathan selbst verflucht. Er war schon wieder hereingelegt worden. Wie es aussah, steckte er in einer Sackgasse fest – drei Ellen im Quadrat und so hoch wie die Tempelvorhalle – und es blieben ihm nur zwei Möglichkeiten, um aus ihr herauszukommen: entweder der Schrumpfraum oder ein schmaler Gang, der nach Süden führte. Die Kammer mit der eingestürzten Decke wollte er auf jeden Fall meiden, das hatte er sich vorgenommen. Also blieb nur noch der enge Korridor, der ihn von Bar-Hazzats Auge wegführte.
Schon nach wenigen Schritten stieß er erneut auf eine Wand. Er musste sich nach links wenden und sah nicht, wie vermutet, das Wasserbecken, sondern wieder nur schwarzen Stein. Daraufhin ging es im rechten Winkel einmal nach links, dann wieder nach rechts, manchmal taten sich vor ihm auch zwei Wege auf und er musste sich für eine der gleichwertig scheinenden Abzweigungen entscheiden. Schließlich blieb er jäh stehen, nicht weil er meinte sich in diesem Irrgarten matt schimmernder Gänge verlaufen zu haben, er hatte vielmehr erkannt, dass er sich den Spielregeln seines Gegners zu unterwerfen begann. Yonathan ahnte,
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