Isau, Ralf - Neschan 03
ist Goel wirklich fortgegangen. Aber Ihr müsst Euch nicht sorgen. Er hat sich nur zur Ruhe gelegt – für eine mehr oder weniger lange Zeit.«
Der Schmerz über den Verlust seines Lehrmeisters und väterlichen Freundes war größer, als Yonathan zugeben wollte. Er wünschte, wenigstens Navran Yaschmon wäre jetzt hier. Als Junge hatte er mit ihm immer über all das sprechen können, was ihn bewegte, und die ruhige und bedächtige Art seines Ziehvaters hatte geholfen so manchen Kummer zu lindern. Allein die Hoffnung, Goel eines fernen Tages wiederzusehen, gab Yonathan die Kraft den Schmerz zu ertragen. Vielleicht war dieser Tag auch gar nicht mehr so fern, sagte er sich. Es hing ganz allein von ihm ab. Eines jedenfalls wusste er: Gestern Nacht war ihm die ganze Last und Verantwortung der Richterschaft übertragen worden.
Bithya hatte sich in die Dunkelheit zurückgezogen. Und in den Schutz ihrer Tränen. Es war ein schweres Stück Arbeit gewesen ihren Kummer zu durchdringen. Aber Yonathan hatte es schließlich doch geschafft.
»Ich habe mich dumm benommen«, sagte sie, nachdem Yonathan den Fensterladen hatte öffnen dürfen und Licht in die Kammer geströmt war. In ihrem Schoß saß Gurgi und ließ sich kraulen.
Yonathan setzte sich wieder zu Bithya und ergriff die Hand, die das Pelztier streichelte. »Du hast den alten Mann sehr geliebt, genauso wie ich. Du warst traurig. Das kann ich gut verstehen.«
Bithya schlug die Augen auf und Yonathan fand, dass die Tränen darin funkelten wie Diamanten in einem Bett aus schwarzem Samt.
»Du bist mir also nicht mehr böse?«, schluchzte sie.
»Bestimmt nicht.«
»Und Yamina?«
»Wirklich nur ein Freund, wie Gimbar.«
»Ich hab dich so vermisst, Yonathan!«
»Mir ging es genauso.«
»Ich möchte dich nie mehr verlassen. Nie mehr!«
Yonathan blickte lange in das schöne Gesicht, bevor er wagte anzumerken: »Meine Aufgabe ist sehr gefährlich. Und ich stehe noch am Anfang. Es ist besser, wenn du mit Sorgan und Balina nach Ganor gehst und dort wartest, bis sich alles entschieden hat.«
Bithyas Körper straffte sich. »Bis zur Weltentaufe? Das kann ich nicht.«
»Du kannst mich schließlich nicht bis nach Gedor begleiten.«
»Gedor?« Bithyas Stimme war nur ein Hauch.
»Ich muss nach Temánah, Liebes. Nur dort wird es zur letzten Begegnung kommen.«
»Mit Bar-Hazzat?«
»Er ist der Geist, der den sechs Augen Leben gibt. Er ist böse. Er achtet niemanden außer Melech-Arez. Versteh bitte, dass ich dich so weit wie möglich von ihm entfernt wissen will!«
»Dann lass mich wenigstens bis nach Cedanor mitkommen. In der Stadt bin ich sicher. Dort sind Felin, Baltan und unsere anderen Freunde.«
Yonathan kämpfte mit sich. Konnte dieses verletzliche Wesen, das er so liebte, in Cedanor wirklich sicher sein? Auch dort war der Einfluss Bar-Hazzats zu spüren. Andererseits: Wie konnte er Bithya schon wieder verlassen, jetzt, da er sie gerade erst wiedergefunden hatte?
»Also gut. Ich nehme dich mit.«
Der Abschied von dem alten Dienerpaar am nächsten Morgen war kurz, aber herzlich. Yonathan öffnete für sie den Grenznebel; ganz gleich, wo die beiden nun in ihn eintauchten, sie würden Gan Mischpad genau bei Ganor verlassen. Vielleicht war dies das letzte Mal, dass ein neschanischer Richter den Torhüter des Gartens spielte.
Bithya schlüpfte mit Gurgi in den Transportsack Yaminas. Jetzt, da die Fronten geklärt waren, schienen sich die beiden jungen Frauen schnell anzufreunden. Das kleine Pelztier trug seinen Teil dazu bei.
Yonathan füllte seinen Reisebeutel mit einigen zusätzlichen Gepäckstücken aus dem Haus der Richter Neschans, mit ein paar persönlichen Andenken und vor allem Schriftrollen, darunter jene, die das Sepher Rasim, das Buch der Geheimnisse, bargen, in dem die neschanischen Richter von ihrer irdischen Existenz berichteten.
Der Start des Drachen verlief gewohnt dramatisch. Als seine Schwingen dann aber die aufsteigenden Luftmassen über dem Garten erreicht hatten, glitt er so majestätisch dahin wie ein Sturmvogel.
Noch einmal passierte das fliegende Schuppenwesen den Nebel zwischen der Welt Gan Mischpads und derjenigen Neschans. Sobald sich die letzten Dunstschwaden verzogen hatten, konnte man tief unten den gemächlich dahinfließenden Cedan erkennen – auch ein Beispiel für die vielen unerklärlichen Phänomene, die sich im und um den Garten der Weisheit abspielten: Der riesige Fluss durchschnitt diese Insel ewigen Sommers, ohne dass er
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