Isau, Ralf - Neschan 03
nieder.
Gimbar fühlte sich inzwischen kräftig genug, um die Vorstellung des Mädchens zu übernehmen.
»Yamina ist die Nichte von Sandai Yublesch-Khansib, der uns sehr geholfen hat«, hob er hervor. »Ihr Vater ist auch ein Khan der Ostleute. Wenn du so willst, ist sie also eine Prinzessin – eine noch ziemlich unverheiratete, nebenbei bemerkt.«
»Lass das, Gimbar!«, wies ihn Yamina streng zurecht. »Ich weiß, wo ich herkomme und wo ich hingehöre. Ich mag es nicht, wenn du so übertreibst. Außerdem habe ich einen Besitzer.«
»So?«, entfuhr es Felin.
»Sie zieht mich immer damit auf«, wiegelte Yonathan ab. »Ich habe sie als Sklavin aus den Händen eines Halunken befreit und seitdem nennt sie mich scherzhaft ihren ›Herren‹. Aber sie kann tun und lassen, was sie will – sogar heiraten.« Yonathan lächelte unschuldig.
»Entschuldigt die ungehobelte Art meiner Begleiter, Hoheit«, entgegnete Yamina. »Ihr müsst dies als große Taktlosigkeit empfinden, nach all dem, was ihr erlebt habt.«
Felin lächelte, als er Yaminas Blick erwiderte. »Meine Gefährten hier und ich haben schon so viel gemeinsam durchgemacht, dass ich ihre Worte richtig einzuschätzen weiß. Im Übrigen sind alle Freunde des Richters die meinen. Darf ich nun auch auf Vertrauen von Eurer Seite rechnen, Yamina?«
Das Ostmädchen zeigte sich beeindruckt von der ruhigen Würde des Prinzen. Ihre Augen suchten Yonathan, als müsse sie ihren »Besitzer« tatsächlich um Erlaubnis bitten, das Ansinnen des Prinzen zu bejahen.
Yonathan nickte ihr unmerklich zu. Dank Haschevet wusste er längst, dass hier zwei Menschen aufeinander getroffen waren, die mehr verbinden würde als nur Freundschaft.
Doch es blieb noch etwas zu tun. Yonathan hatte – das verriet ihm seine innere Unruhe – an diesem Tag noch eine Aufgabe zu erfüllen. Das Auge rührte sich. Es schien zu rufen. Nicht ihn, den Richter, den verhassten Feind, sondern die todbringende Streitmacht Temánahs. Das also war die eigentliche Ursache für die geradezu wahnsinnige Angriffswut des Südlandheeres gewesen, von der Felin erzählt hatte: Bar-Hazzats Auge zog alle diese Kreaturen in seinen Bann und sie folgten seinem Lockruf wie die Prachtbienen des Verborgenen Landes: ohne Rücksicht auf ihr eigenes Leben.
Er musste handeln.
Der Abstieg an die Wurzeln des Sedin-Palastes erschien ihm so vertraut wie früher der Weg zum Ess-Saal im Knabeninternat von Loanhead. Seltsam, dass ihn seine Erinnerungen an das irdische Leben immer dann einholten, wenn er sich für eine schwere Aufgabe wappnete. Yonathan nahm die letzten Stufen auf Zehenspitzen.
Zweimal war er bereits an diesem Ort gewesen und jedes Mal hatte er sich dabei unwohl gefühlt. Nicht wegen der Kälte, die den Atem im Fackellicht dampfen ließ – kleine Wölkchen verloren sich in der Dunkelheit. Schon als Felin mit ihm vor über drei Jahren in den Tiefen des Sedin-Palastes gewesen war, hatte diese andere, unangenehmere Kälte existiert. Yonathan hatte sie sich damals nicht recht erklären können. Heute wusste er, dass die Nähe des Auges dieses Empfinden verursachte.
Er steckte die Pechfackel in einen verrosteten Halter; auf seinem weiteren Weg würde sie ihm nicht viel nützen. Millionen von Salzkristallen reflektierten von den Wänden dieser großen Höhle das Licht der Flammen, ein unterirdisches Sternenmeer.
Yonathan hätte sich gewünscht nicht allein die Wendeltreppe in dem großen runden Schacht hinuntersteigen zu müssen… Unsinn! ermahnte er sich. Er hatte ja selbst darauf bestanden, dass Felin, Gimbar und Yomi (der inzwischen von der Westmauer herübergekommen war) oben, in den Kerkergewölben, blieben und warteten.
Sie wollten natürlich nicht auf ihn hören. Er führte ins Feld, dass ihr guter Wille allein im Kampf gegen das Auge nicht genüge, es besäße übernatürliche Kräfte, denen einzig Haschevet gewachsen sei. Das Leben seiner Gefährten sei ihm mehr wert als ein kurzzeitiges Gefühl kameradschaftlicher Verbundenheit, argumentierte er. Eigentlich, so befand Yonathan, war seine Beweisführung ziemlich eindrucksvoll, sozusagen hieb- und stichfest. Aber dann hatte Gimbar ja unbedingt erzählen müssen, wie er den unbesiegbaren Stabträger aus dem brennenden Tempel in Abbadon geschleppt hatte. Schließlich war es zu einem Kompromiss gekommen: Yonathan gestand seinen Freunden zu, dass sie in einer der Kerkerzellen auf ihn warteten; von dort konnten sie ihm schnell zu Hilfe eilen, sollte er im Kampf
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