Isau, Ralf - Neschan 03
ihm noch ausführlich, wo er das Westtor des Verborgenen Landes finden konnte. Das Geheimnis der beiden Türme am Ausgang des Tals kannte jedoch selbst er nicht.
So war nun endgültig der Augenblick des Abschieds gekommen. Da die Größe des Schuppenwesens jeden Versuch einer Umarmung von vornherein unmöglich machte, blieben nur verlegene Worte. Yonathan saß ein dicker Kloß im Hals und er konnte kaum zum Ausdruck bringen, was ihm wirklich auf dem Herzen lag. Auch Yomi, der den Drachen ja erst kurz kannte, war bewegt, zerdrückte sogar ein, zwei Tränen in den Augenwinkeln. Gimbar fiel das Lebewohlsagen noch am leichtesten.
Aus der sicheren Deckung einiger Felsbrocken verfolgten die drei Freunde den Abflug Garmoks. Mit weiten Sätzen sprang das riesige Tier das Tal hinab, gewann an Geschwindigkeit und fing mit ausgebreiteten Flügeln den Wind ein, der es schnell den niedrigen Wolken entgegentrug. Mit einer letzten Schleife, vor dem Eintauchen in das bauschige Himmelsband, formte es den Buchstaben Taw, der das neschanische Alphabet beschließt.
»Er hat uns gerade noch einmal Lebewohl gesagt«, murmelte Yonathan, den Kopf weit im Nacken.
»Ein unheimlich beeindruckender Gefährte!«, entfuhr es Yomi. »Ich werde ihn so schnell nicht vergessen.«
»Ich auch nicht«, fügte Gimbar hinzu.
Yonathan hielt sein Versprechen – er ruhte sich aus und schlief die meiste Zeit. Gimbar dagegen konnte nicht ruhig sitzen bleiben. Schon bald nach Garmoks Abreise musste er seinen Beinen, wie er beteuerte, unbedingt Auslauf verschaffen. Er wollte ein wenig auf die von Yonathan erwähnten Türme zuwandern.
»Aber halt dich von ihnen fern!«, mahnte jener. »Versuche auf keinen Fall an ihnen vorbeizugehen.«
Gimbar verstand Yonathans Aufregung nicht. »Schon gut, schon gut. Findest du nicht, dass du übertreibst?«
»Nein.«
»Hör lieber auf Yonathan«, riet nun auch Yomi. »Das Verborgene Land hat seine eigenen Gesetze. Wer sie nicht kennt, kann ziemlich schnell abhanden kommen.«
»Abhanden?«
»Von Bäumen eingekleistert, von Untieren gefressen – etwas in der Art eben.«
Gimbar schluckte. Er erinnerte sich an die Erzählungen seiner beiden Gefährten. »Ich werde mich vorsehen. Ganz bestimmt!«, versprach er.
Während Yonathan seiner Erschöpfung nachgab, erlebte Yomi einen ereignislosen Nachmittag. Schließlich waren mehrere Stunden vergangen, seit Gimbar zu den Türmen aufgebrochen war. Allmählich begann Yomi sich ernsthaft zu sorgen.
Am liebsten hätte der hochgewachsene Seemann sich auf die Suche nach dem Freund gemacht, aber er wollte Yonathan nicht allein lassen. Mit zunehmender Ungeduld stapfte Yomi zwischen kargem Gras und den weißgrauen, überall aus der Erde ragenden Felsen herum, nie weiter als einen Steinwurf vom Lager entfernt, und suchte nach Lebenszeichen des vermissten Gefährten. Einmal rief er sogar Gimbars Namen. Ein zum Misserfolg verurteiltes Vorhaben, wie er bald merkte – ganz in der Nähe stürzte ein schmaler Wasserfall aus großer Höhe in das Tal hinab und erstickte mit seinem Getöse jeden anderen Laut.
Als der Abend nahte, konnte Yomi die Ungewissheit nicht mehr aushalten.
Yonathans sorgloser Schlummer wurde durch ein heftiges Schütteln gestört.
»Was ist?«, brummte er kaum verständlich und wollte sich wieder umdrehen.
»Yonathan!«, rief Yomi streng. »Du kannst jetzt nicht schlafen. Gimbar ist immer noch nicht zurück.«
Yonathan war schlagartig hellwach. »Wie spät ist es?«
»In höchstens zwei Stunden geht die Sonne unter.«
»Er ist die ganze Zeit fort gewesen?«
Yomi nickte.
»Nimm dir zwei Fackeln.« Yonathan griff zum Stab und sprang auf die Beine. »Wenn die Sonne erst einmal weg ist, wird es hier in den Bergen sehr schnell dunkel. Wir wollen Gimbar lieber entgegengehen.«
Yomi suchte Fackeln, Feuerstein, Stahl und Zunder zusammen und hastete Yonathan hinterher, der schon vorausgeeilt war.
Bereits nach einer Meile hatte sich das Tal zu einem schmalen Hohlweg zusammengezogen. Links und rechts ragten die grauen Felswände steil empor.
»Irgendwie unheimlich«, flüsterte Yomi, während er neben Yonathan herging. »Als hätte ein Riese seine Axt in den Berg getrieben.«
»Vielleicht liegst du da gar nicht so falsch«, erwiderte der Stabträger, ohne den Blick von dem unebenen Pfad zu nehmen.
»Wie meinst du das?«
»Das Verborgene Land wäre kein verborgenes Land, wenn man es von überall her bequem erreichen könnte. Yehwoh hat es verschlossen, damit kein
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