Isau, Ralf - Neschan 03
über den Rand spähte, konnte er in der Dämmerung erkennen, was Garmok meinte.
Gerade überflog der Drache die letzten Baumriesen und hielt auf einen engen Taleinschnitt zu, an dessen beiden Seiten Felswände wie die Mauern eines gigantischen Wehrgangs aufragten. Unmittelbar am Ausgang des Tals kauerten zwei trutzige Türme wie versteinerte Wächter. Der Weg zwischen ihnen hindurch war mit kleinen Felsnadeln gespickt.
Yonathan hielt den Atem an. Ihm fiel die Strophe des alten Gedichts über die sieben Wächter des Verborgenen Landes ein:
Zwei Ohren, die lauschen in verlassnem Gemäuer,
Verwandeln zu Stein, wessen Drängen sie stört.
Schon waren die Türme unter dem Drachen zurückgeblieben und Yonathan konnte nicht mehr feststellen, ob sie irgendeine Ähnlichkeit mit »Ohren« besaßen.
Die Schlucht wurde im weiteren Verlauf breiter, sodass Garmok genügend Raum zum Manövrieren fand. Zur Erleichterung aller Passagiere wählte er diesmal die sanftere Furchenlandung:
Seine robusten Klauen gruben sich in eine einsame Bergwiese und nach einigem Schlittern und Hüpfen kam er sicher zum Stehen.
Yomi war der Erste, der sich aus seinem Transportbehältnis befreite. Er wählte nicht den kürzesten Weg zum Boden, sondern hangelte erst noch ein wenig auf dem Drachen herum. Yonathan wunderte sich nicht zum ersten Mal über die Geschicklichkeit, die der hagere, lange Seemann beim Klettern an den Tag legte, wo er doch ansonsten eher unbeholfen wirkte.
»Da wird einem ja schon vom Zusehen übel«, kommentierte Gimbar die Tollkühnheit seines Freundes.
»Lass ihn«, erwiderte Yonathan schmunzelnd. »Du weißt doch, dass alle Jungen gerne klettern. Und Yomi ist eben ein großer Junge geblieben.«
»Ein unheimlich großer, um seine Worte zu benutzen.«
In ihr Lachen mischte sich Garmoks Stimme. »Noch eine Kleinigkeit weiter hinten.«
»Hier?«, rief Yomi zum Drachenkopf hin.
»Ja. So ist es gut. Und jetzt heftig scharren – mit dem Fuß.«
»Was machen die da?«, fragte Gimbar verdutzt.
»Ich glaube, Yo kratzt ihm den Rücken«, erwiderte Yonathan und schüttelte lächelnd den Kopf.
Am nächsten Morgen mussten sich die Freunde von Garmok verabschieden. Der Drache entschuldigte sich wohl ein Dutzend Mal, weil er seine Freunde nun im Stich ließe, und Yonathan erwiderte mindestens ebenso oft, dass das Leben seines Verbündeten ihm wichtiger sei als ein schnelles Vorwärtskommen. In einer Hinsicht musste er den schuppigen Freund aber noch necken.
»Als wir vor vier Tagen in deiner Höhle aufeinander trafen, hast du behauptet, du könntest die nächsten tausend Jahre dort sitzen bleiben und beobachten, was ich tue. Ist es bei Drachen üblich von ›tausend Jahren‹ zu sprechen, wenn sie ›eine Woche‹ meinen?«
»Das war ein geringfügiges Flunkern«, gab der Drache zu. »Eine Notlüge.«
»Für den Belogenen gibt es keine Notlügen«, erwiderte Yonathan scheinbar streng. »Für ihn sind alle Unwahrheiten gleich – sie töten das Vertrauen.« Dann musste er aber doch grinsen.
Garmok nahm die Ermahnung trotzdem ernst. »Damals stand ich unter dem Einfluss des Auges. Aber ich gebe dir mein Drachenehrenwort: Ein Lügen wird es für mich nie mehr geben!«
»Schon gut. Ich werde allen Menschen erzählen, dass Drachen die vertrauenswürdigsten Geschöpfe sind, die jemals ihren Schatten auf den Boden Neschans geworfen haben.«
»Du beschämst mich.« Garmok schlug die roten Augen nieder und murmelte: »Hoffentlich schenkt man dir Glauben.«
»Bestimmt. Aber ehe du abfliegst, hätte ich noch eine letzte Frage.«
»Stelle sie. Drachen wissen viele Antworten.«
»Du kennst das Gedicht von den sieben Wächtern des Verborgenen Landes?«
»Gewiss.«
»Wo befindet sich der Wächter im Westen?«
»Du meinst…?«
Yonathan nickte und wiederholte den alten Vers.
Und schließlich der Rachen, erfüllt seinen Bauch,
Die Neugier bestraft er mit tödlicher Wut.
»Es gibt ein Loch in der Erde«, sagte Garmok. »Für Drachen sehr interessant!«
»Wie meinst du das?«
»Seine Wände sind ringsum mit kostbaren Gemmen besetzt.«
»Ich nehme an, dass es unklug wäre, seiner ›Neugier‹ in Bezug auf diese Juwelen nachzugeben«, schlussfolgerte Yonathan.
»Wenn selbst Drachen diesen Ort meiden, dann sollte es eine Warnung für jeden sein. Vielleicht…«
»Schon gut«, unterbrach Yonathan den Drachen. »Alles zu seiner Zeit.« Er glaubte verstanden zu haben, worum es bei dem Rachen-Wächter ging. Garmok erklärte
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