Isau, Ralf - Neschan 03
beruhigte. Er hatte noch einen anderen Grund für seinen kleinen Umweg, doch den wollte er vorerst für sich behalten.
Ab Mittag begann der Weg leicht anzusteigen. Die drei Wanderer hatten ein Tal betreten, das zwischen grünen Bergrücken nach Süden führte. Im Laufe des Nachmittags wurde der Baumbestand niedriger, das Tal schmaler und die Berge zu beiden Seiten wiesen immer häufiger kahle Stellen auf.
»Ich glaube, dort drüben ist eine gute Stelle, um ins Nachbartal überzuwechseln«, erklärte Yonathan, als die Schatten bereits lang wurden. »Oben, zwischen den Felsen, finden wir bestimmt auch einen geschützten Platz, um unser Nachtlager aufzuschlagen.«
Obwohl der Aufstieg in den felsigen Pass nicht allzu schwierig war, bestand Yonathan doch darauf, dass man sich mit Seilen gegenseitig sicherte. Yomi übernahm die Führung, Gimbar bildete die Nachhut. Als die Seilschaft den höchsten Punkt des Passes erreichte, ging hinter den Wolken im Westen die Sonne unter.
Yomi war der Erste, der das Wunder sah. »Da, Yonathan, schau!« Er deutete ins Nachbartal hinab und brachte keinen Ton mehr hervor.
»Unglaublich!«, entfuhr es Yonathan. Er hatte sich nicht geirrt. Das Tal zu seinen Füßen war jenes, das er einst mit Yomi und Din-Mikkith durchwandert hatte, bevor er in das ewige Eis des Südkammes hinaufgestiegen war. Aber damals hatte es ganz anders ausgesehen.
»Kann mir vielleicht jemand verraten, was hier so bemerkenswert ist?«, zerschnitt Gimbars Stimme die plötzlich eingetretene Stille. Sein Blick wanderte zwischen Yomi und Yonathan hin und her, aber niemand schien von ihm richtig Notiz zu nehmen. »He! Was ist denn los mit euch?«
»Da… da unten der See«, brachte Yomi schließlich hervor.
»Ja und? Was soll denn Besonderes an dem Weiher sein?« Gimbars Spott stellte nur einen Ausdruck seiner Ratlosigkeit dar. Er war sich sicher, dasselbe zu sehen wie die Gefährten; und doch fühlte er sich irgendwie ausgeschlossen.
»Und ringsum ist alles unheimlich grün«, fügte der blonde Seemann verzückt hinzu.
»Tatsächlich! Wieso auch nicht? Dieses ganze verregnete Land ist schließlich zugewachsen und überwuchert. Warum sollte es hier, noch dazu am Wasser, anders sein?«
»Ich glaube, wir sollten unseren Freund über den See aufklären.« Yonathan meldete sich nach längerer Zeit wieder zu Wort.
Gimbar schaute ihn erwartungsvoll an.
»Dort unten, wo du jetzt einen See siehst, dessen Ufer von Schilf umsäumt sind, wo Scharen von Vögeln im Wasser nach Nahrung suchen, da unten, wo sich heute ein Paradies voller Leben befindet, herrschte vor beinahe vier Jahren noch der Weiße Tod. Das Tal war von einem Salzsee ausgefüllt. Es war tot. Kein Baum, kein Strauch wuchs an seinen Ufern.«
Gimbars Augen weiteten sich. »Dann ist das Ha-Cherem, die Verfluchte, die Stadt, die einst Ha-Gibbor hieß und vom Richter Yenoach mit einem Bann belegt wurde.«
Yonathan nickte und seine Stimme klang sonderbar feierlich, als er verkündete: »So wurde aus ›der Starken‹ ›die Verfluchten‹. Doch heute wird der siebte Richter die Prophezeiung des ersten erfüllen und diesem Ort einen neuen Namen geben. Fortan sollst du den Namen Ha-Mattithyoh, ›die Gabe Yehwohs‹, tragen, weil seine Macht es war, die dich von deinem Aussatz heilte.«
Schweigen senkte sich über die Gruppe der Wanderer. Selbst Gimbar hatte es die Sprache verschlagen. Er durfte Zeuge der Erfüllung einer mehr als viertausend Jahre alten Weissagung sein. Und niemand anderes als sein Freund, Yonathan – nein: Geschan –, hatte diese übernatürliche Verwandlung besiegelt. Er hatte diesem Ort den neuen Namen verliehen, der alle künftigen Generationen an das Wunder erinnern würde.
Auch Yonathan selbst konnte sich der Wirkung dieses Augenblicks nicht entziehen. Als er vor fast vier Jahren am Tor des Südens gegen Sethur gekämpft und Haschevets Kraft die Eismassen geschmolzen hatte, auf denen der Heeroberste Bar-Hazzats stand, war eine ungeheure Flut zu Tal geschossen. Damals hätte er sich nicht vorstellen können, dass aus der Wucht der Zerstörung ein Akt der Schöpfung werden sollte. Er hatte angenommen, Sethur sei in den Wassermassen umgekommen, und den vermeintlichen Tod seines Gegners sogar bedauert. Doch später war der Heeroberste ihm wieder unversehrt entgegengetreten. Vielleicht, dachte Yonathan bei sich, lag der Schonung von Sethurs Leben ein verborgener Zweck zugrunde. Aber wenn er all die Schwierigkeiten in Betracht zog, die
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