Isau, Ralf - Neschan 03
Sinn geht«, sagte Yonathan. »Wenn es mir gelingt ein Loch durch die Wolkendecke zu stoßen, kann von oben kalte Luft hereinströmen. Mit Yehwohs Macht könnte daraus ein Wirbelsturm entstehen, in dessen Zentrum wir sicher sind, während der Wächter so viel Regen und vielleicht sogar Hagel abbekommt, dass sich sein Feuer schnell abkühlen wird.«
Gimbar nickte. »So ungefähr habe ich mir das vorgestellt.«
Din-Mikkith hatte lange geschwiegen. Seine grünen Augen lagen auf Yonathan und jetzt lächelte er. »Ich weiß, dass du es schaffen kannst, Kleines. Solange du auf Yehwoh vertraust, ist deine Macht sehr viel größer, als du es dir je ausmalen könntest.«
Auch Yomi stimmte zu: »Es wird zwar unheimlich schwer werden, aber wenn wir zusammenhalten, dann muss sich der Wächter da oben ziemlich warm anziehen.«
»Also gut!« Aus Yonathan sprach neue Zuversicht. »Dann lasst uns den Schlachtplan genau besprechen. Es darf uns kein Fehler dabei unterlaufen und… wir haben wenig Zeit.«
Beim zweiten Aufstieg schien Yonathan schon fast jede Spalte und Rinne so vertraut zu sein, wie es einstmals die Flure des Knabeninternats von Loanhead gewesen waren. Er erinnerte sich an Samuel Falter. Der alte Heimdiener hatte sich immer um alles gekümmert, seit Jonathan an den Rollstuhl gefesselt war, damals auf der Erde, einer anderen Welt, zu einer anderen Zeit. Samuel strahlte eine Art von mütterlicher Beharrlichkeit aus: Er war liebevoll und fest zugleich. Auch was den wöchentlichen Badetag betraf, kannte er keine Gnade. Es wurde eingeseift und geschrubbt. Oft brannten Jonathan die Augen. Und alles nur zu seinem Besten. Das Gurgeln des Badewassers im Abfluss war da oft ein ebenso erlösendes Geräusch gewesen wie der Klang der Pausenglocke am Ende von Pastor Garsons langweiligem Religionsunterricht.
Yomi, Gimbar, Din-Mikkith und Girith waren etwa auf der halben Höhe des Vulkans zurückgeblieben. Die erstarrte Lava bildete breite Ströme, die an verschiedenen Stellen zu Wellenbögen aufgeworfen waren, immer dort, wo felsige Klippen der talwärts fließenden Glut im Wege gestanden hatten. Sie gaben gute Verstecke ab. Dies war der verabredete Ort. Hier sollte Yonathan das Auge des Zyklons halten, während er selbst vor dem Wächter flüchtete.
Scheinbar flüchtete. Das war die Taktik: den flammenden Hüter aus seinem Versteck zu locken und ihn dann an der ungeschützten Flanke des Vulkans mit einem eisigen Schauer zu überraschen.
Erneut erreichte Yonathan den oberen Einschnitt. Er blieb stehen. Das Ziehen in seinem Hinterkopf nahm er kaum noch wahr.
Jede Faser seines Körpers war angespannt. Wie sollte er nur den Sturm erschaffen? Er durfte nicht den gleichen Fehler begehen wie einst Goel, der sich selbst den Sieg über Grantor zugesprochen hatte – und wegen dieser Anmaßung bis zu seinem Lebensende in den Garten der Weisheit verbannt wurde.
Yonathan sandte ein letztes Gebet an den, der ihn hierher begleitet hatte. Dann hob er den Stab und rief: »Komm heraus, Hüter des Auges.«
Seine Stimme verhallte scheinbar ungehört in dem engen Spalt. Er würde sich kein zweites Mal in diese Falle locken lassen.
»Was soll dieses Versteckspiel?«, rief Yonathan noch einmal. »Ich will das Auge und du möchtest das verhindern. Tragen wir’s also aus.«
Schweigen. Nur das Säuseln des Windes, der an seinen Haaren zupfte.
Yonathan zog einen winzigen Teil seiner Kraft zusammen, ließ sie durch den Stab strömen, der erzitterte und einen feurigen blauen Ball die Kluft hinaufschickte. Der Kugelblitz verwandelte einen Teil der gegenüberliegenden Gesteinswand in herabrieselndes Geröll.
Als der Staub sich senkte, trat ein karminrotes Glühen hervor. Ein bedrohliches Fauchen ließ einen Schauder über Yonathans Rücken laufen. Der Wächter war größer als jemals zuvor, mindestens zehn Fuß hoch, und obwohl die Lavamasse kein Gesicht besaß, um Gefühlsregungen zum Ausdruck zu bringen, strahlte von ihr eine unheimliche Feindseligkeit und Bösartigkeit aus, die Yonathan in diesem Ausmaß bisher nicht begegnet war.
Der Stabträger wusste, dass es das Auge selbst war, das dem Wächter diese neue Kraft verlieh. Es wohnte in ihm, bildete sein Herz, den Quell seiner Macht. Noch einmal kamen Yonathan Zweifel. War der schnelle Rückzug des Wächters nur eine List gewesen? Hatte er sich nur verletzlich gegeben, um seinen Widersacher zur Unvorsichtigkeit verleiten, ihn ein für allemal vernichten zu können?
Yonathan kämpfte die
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