Isau, Ralf - Neschan 03
Vorübergleiten von den Bäumen zupfte oder anderweitig beschaffte, wenn er für kurze Zeit den Schneckerich verließ. Sobald Yomi sich wieder einmal beschwerte, erinnerten ihn Yonathan und Din-Mikkith nur an das alptraumhafte Wesen, das Jahre zuvor beinahe über die drei hergefallen wäre, nur weil der Seemann damals unbedingt Fisch hatte essen wollen. Yomis Magen beruhigte sich daraufhin immer sehr schnell.
Als der Höhenzug im Westen eines Morgens leuchtend orange in der Morgensonne aufflammte, klopfte Din-Mikkith auf Baldrians Schneckenhaus und verkündete: »Heute werden wir uns von unserem guten Freund trennen müssen. Er wird in diesem Waldstück sein Weibchen suchen, und wenn beide einander liebevoll umschlingen, ist es besser, nicht zu nahe bei ihnen zu sein.«
»Verstehe«, sagte Gimbar mit einem Augenzwinkern. »Diskretion.«
»Falsch«, antwortete Din-Mikkith. »Schleim.«
Gimbars Kinnlade fiel herunter. »Sie beschmieren sich mit diesem ätzenden Zeug?«
»Die Riesenschneckenweibchen jedenfalls finden es anregend. Sie fahren dabei schier aus dem Häuschen.«
Der Expirat bedachte den Behmisch mit einem langen, zweifelnden Blick.
Yonathan beschäftigten mehr geographische als biologische Fragen. »Eigentlich dürfte es nicht mehr weit sein bis zu dem Ort, von dem Garmok uns erzählt hat. Was meinst du, Din?«
»Das glaube ich auch, Kleines. Girith kam vor etwa einer Stunde von einem Erkundungsflug zurück. Ich habe seinen Erinnerungen ein Bild entnommen, das mit der Beschreibung eures Drachen übereinstimmen könnte: eine große Lücke im westlichen Grenzgebirge.«
»Ein Tal, ähnlich dem im Osten, das die beiden Türme bewachen?«
Din-Mikkiths Kopf wogte in einer fließenden Bewegung – ein Nein in der Behmisch-Mimik. »Was Girith aufgefallen ist, sieht eher wie ein riesiges Loch aus. Als wäre ein ungeheurer Bohrer auf den Gipfelgletschern angesetzt und bis tief an die Grundfesten der Berge getrieben worden.«
Die drei Zuhörer des Behmischs warfen sich beunruhigte Blicke zu. Yonathan sprach wie zu sich selbst, tonlos und leise:
Und schließlich der Rachen, erfüllt seinen Bauch,
Die Neugier bestraft er mit tödlicher Wut.
»Giriths Eindrücke passen wirklich sehr gut zu dem Bild des ›Rachens‹«, bestätigte Din-Mikkith.
»Hat Rotschopf irgendein Funkeln in der Öffnung gesehen?«
»Du denkst an die Edelsteine, von denen Garmok euch berichtet hat? Nein. Aber das muss nichts heißen. Girith interessiert sich nicht besonders für solche Dinge.«
»Was haltet ihr davon?«, fragte Yonathan in die Runde seiner Freunde.
Yomi zuckte die Achseln. »Ist mir unheimlich egal, wo wir anfangen.«
Gimbar nickte. »Schauen wir uns die Grube doch einfach an. Das Schlimmste, was uns passieren kann, ist ein großer Reinfall.«
Vier winzige Gestalten blickten ergriffen in das größte Loch Neschans. Ungefähr sechs Stunden waren vergangen, seit sie sich von Baldrian verabschiedet hatten. Die Sonne stand jetzt hoch am Himmel, ihre Strahlen brachen durch den Rand der Wolkendecke, die hier an der Grenze des Verborgenen Landes schon stark aufgelockert war. Tief unten in dem Schlund funkelte es, ein geheimnisvolles Glitzern, verlockend und Furcht einflößend zugleich.
»Als sähe man in dunkler Nacht zum Sternenhimmel empor«, flüsterte Yonathan; es war ihm schwer gefallen, das andächtige Schweigen zu brechen.
»Ich wüsste unheimlich gerne, was das Geheimnis dieses Wächters ist«, sagte Yomi.
Gimbar ließ seine Nasenspitze los und meinte: »Wahrscheinlich wohnt da unten ein Monstrum, das nur darauf wartet, dass ein Neugieriger seine Nase zu weit in dieses Loch steckt – so würde ich jedenfalls die Strophe aus dem Gedicht über die sieben Wächter deuten.«
»Wenn ich das Lage richtig beurteile«, meldete sich Din-Mikkith, »stehen uns zwei Wege zur Auswahl. Schaut, dort!« Seine biegsamen Arme beschrieben zwei Bögen. »Die beiden Pfade führen um den Abgrund herum. Sie sind sich sehr ähnlich. Keiner scheint dem anderen gegenüber einen Vorzug zu bieten. Welches Weg sollen wir wählen?«
Die Frage war vor allem an Yonathan gerichtet, der noch einmal seine Augen über das ganze Szenarium schweifen ließ. Rings um das Loch ragten Felswände zwei Meilen hoch, in einer nahezu vollkommenen, glatten Rundung. Wie zwei schmale Absätze oder Simse waren die beiden Pfade aus dem Gestein geschlagen. Ein Vorplatz bildete den einzigen Zugang zu dem Abgrund und den ebenerdig ansetzenden Wegen. Von hier
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