Isau, Ralf - Neschan 03
nicht. Jedenfalls sind wir dann nebenhergerannt, haben dich hochgezerrrt und in diese Mulde gelegt.«
»Und alles, ohne dass sie stehen blieb?«
»Din-Mikkith sagt, die jungen Schneckeriche pilgern jeden Herbst in den Südwesten des Verborgenen Landes, um sich eine Braut zu suchen. Dabei kann nichts und niemand sie aufhalten.«
»Es kommt mir nicht so vor, als ob dieser hier in Eile wäre.«
»Das täuscht. Sie sind nicht unbedingt schnell, aber dafür sehr ausdauernd. Zu dieser Jahreszeit sind sie praktisch ständig in Bewegung. Selbst wenn ein Teil ihres Gehirns ausruht, kann der andere weiter nach Bräuten jagen. Dadurch schaffen wir ungefähr vier Meilen in der Stunde; das sind sechsundneunzig am Tag. Dein kleiner grüner Freund meint, dass wir für die gut achthundert Meilen zur Westgrenze des Verborgenen Landes nicht mehr als neun Tage brauchen werden.«
»Auch aus Kieselsteinen lässt sich ein Turm errichten!« Yonathan staunte.
In diesem Augenblick drehte sich Din-Mikkith um und entdeckte den wiedererwachten Gefährten. Zusammen mit Yomi kam er den Schneckenrücken entlanggelaufen. Alle vier setzten sich in die größte der insgesamt acht von außen zugänglichen Kammern und feierten Yonathans Rückkehr zu den Lebenden.
Einige Tage später thronte Yonathan gemeinsam mit Din-Mikkith auf dem Nacken der Riesenschnecke. Eine Weile hatten sie nur den vorüberziehenden Regenwald auf sich wirken lassen. Yonathan staunte immer wieder über die schier grenzenlose Vielfalt von Pflanzen und Tieren, die man hier zu Gesicht bekam.
Die Schnecke hatte sich bis jetzt als ein überaus friedliches Reittier erwiesen. Gimbar fand es daher passend ihr den Namen »Baldrian« zu geben. Sie trug die Reisenden mit der Geduld eines dahintreibenden Floßes. Nur einmal, als ein wildschweinähnliches Untier von der Größe eines Bullen mit langen, scharfgebogenen Hauern nicht den Weg räumen wollte, sondern sich vor der Schnecke mit scharrenden Hufen und gesenktem Haupt aufbaute, verlor sie ihre Zurückhaltung. Die Schnecke hob verblüffend schnell den vorderen Teil ihres Körpers und spritzte einen grünlichen Schleim direkt auf den Angreifer. Getroffen stürzte jener zur Seite, blieb bewegungsunfähig am Boden kleben und musste miterleben, wie Baldrian mit seinen unzähligen Füßen über ihn hinwegtrampelte. Als der Körper hinter der Schnecke wieder zum Vorschein kam, waren von ihm nur noch blanke Knochen übrig – Baldrian hatte das Tier sozusagen im Vorübergehen verdaut.
Die meisten Waldbewohner wussten um diese Fähigkeit der Riesenschnecken. Deshalb räumten sie lieber das Feld, wenn sich einer der stillen Kolosse näherte. Yonathan und seine Gefährten hatten also einige Tage zuvor – und er fragte sich noch lange Zeit später, ob es Zufall oder Eingebung gewesen war – genau richtig reagiert.
Bullengroße Wildschweine waren eine absolute Ausnahme auf dem Speisezettel Baldrians. Der friedliche Riese ernährte sich ansonsten ausschließlich von Blättern, die sein Maul im Dahingleiten von den Ästen streifte. Seine vier Reiter duldete er nicht nur, er schien sich sogar an ihrer Gesellschaft zu erfreuen. Immer wieder untersuchten die vier Schneckenaugen die Mitreisenden, als gäbe es täglich etwas Neues an ihnen zu entdecken. Die auf langen, beweglichen Fühlern sitzenden Sehorgane konnten sich unabhängig voneinander bewegen – einmal umschlängelten sie neugierig einen der Reiter, dann wieder blickten sie von oben auf ihn herab, während ein anderer, augenloser Fühler die Haare des Studienobjekts zerwühlte oder an der Kleidung herumzupfte.
»In der Behmisch-Sprache nennen wir diese Schnecken übri gens Rakk-Danbalath.«
Yonathan hätte Din-Mikkiths Erläuterung beinahe überhört. Die leise Stimme des Behmischs hob sich kaum von dem Rauschen der Blätter hoch oben im Dach des Waldes ab.
»Lass mich raten«, erwiderte er. »Das bedeutet ›Pfad durch den Wald‹, stimmt’s?«
Din-Mikkith kicherte. »Ich dachte mir schon, dass du den wahren Namen selbst herausfinden würdest. Die Lebenden Dinge sind dir zugetan; noch mehr, seit ich dir meinen Keim geschenkt habe.«
Yonathan räusperte sich. Es fiel ihm schwer, die richtigen Worte zu finden. »Da gibt es etwas, das ich mit dir besprechen wollte, Din. Deshalb bin ich zu dir nach vorne gekommen.«
Din-Mikkiths Gesicht zeigte ein Lächeln, das nur Eingeweihte wirklich entschlüsseln konnten. »Das habe ich mir schon gedacht, Kleines. Was gibt es denn so
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