Isau, Ralf - Neschan 03
und dadurch Bar-Hazzat seinen Aufenthaltsort verraten. Auf irgendeine Weise war es Geschan dann doch gelungen eines der sechs Augen des dunklen Herrschers zu vernichten. Kein Wunder, dass Bar-Hazzat unruhig wurde. Die Zeit war äußerst knapp. Geschan, der letzte Richter von Neschan, musste zur Strecke gebracht werden.
Wenigstens hatte diese Sorge des Herrschers von Temánah auch ihr Gutes: Sethur war wieder frei. Dreieinhalb Jahre war er lebendig begraben gewesen, ein Jäger im Turm, dessen Zeit glanzvoller Siege längst vergessen schien. Doch Bar-Hazzat hatte sich seiner erinnert. In der Stunde der Not hatte er ihn wieder geholt, so wie man sich beim ersten Anzeichen der Gefahr seines alten Schwertes erinnert. Er sollte seinem Gebieter dankbar sein. Endlich konnte er die eine Aufgabe erfüllen. Nur die Hoffnung, sich bewähren zu können, hatte ihn so lange am Leben erhalten. Die »Tochter der Narga« war ein schlanker Fünfmaster, wie man sie nur in Temánah baute: pechschwarz vom Kiel über die Segel bis zum Groß-Flaggentopp, filigran wie eine Gottesanbeterin und mindestens ebenso tödlich. Sie ähnelte von Bau und Größe her ihrer Vorgängerin, der Narga, die einst vor dem Südkamm vom Weißen Fluch verschlungen worden war.
Schiffe wie die Bath-Narga waren so konstruiert, dass sie große Strecken in kürzester Zeit zurücklegen konnten. Ihre Ladung bestand aus Waffen und Kriegern. An Bord von Sethurs Schiff befanden sich zweihundertvierzig Männer, die meisten von ihnen erfahrene Kämpfer, eine schlagkräftige Truppe.
Kirzath, der Kapitän des schwarzen Seglers, hatte mit Geschan noch eine Rechnung zu begleichen. Vor dreieinhalb Jahren hatte er das Kommando auf der Narga innegehabt. Für ihn gab es nur einen einzigen Schuldigen an der Katastrophe vor dem Südkamm, der sein geliebtes Schiff zum Opfer gefallen war: Geschan, den siebten Richter, der sich damals noch Yonathan nannte. Mit der Ehre Sethurs war nun auch die des Kapitäns wiederhergestellt. Bar-Hazzat kannte Kirzaths tief verwurzelten Hass, er schätzte diese Eigenschaft bei seinen Dienern.
Geschan war knapp fünf Monate vom Garten der Weisheit bis nach Har-Liwjathan unterwegs gewesen. Das hieß, er würde beinahe ebenso lange benötigen, um das Auge in Abbadon zu erreichen – Zeit genug für die Bath-Narga den Lurgon hinaufzusegeln, über verborgene Täler und Pässe in die südliche Mara einzudringen und bis zur verfluchten Stadt vorzustoßen. Dort konnte Sethur dann in aller Ruhe abwarten, bis Geschan erschien.
So lautete der Plan.
Aber bereits am Morgen des dritten Tages nach dem Auslaufen erschütterte ein unnatürlicher Schmerzensschrei das Gefüge Neschans, bei dem sich für einen Augenblick der Himmel über Temánah zu verfinstern schien. Sethur wusste, was geschehen war: Geschan hatte das zweite Auge zerstört. So schnell!
Ein grimmiges Lächeln huschte über seine Lippen. Dieser Richter, der fast noch ein Knabe war, hatte noch nie das getan, was man von ihm erwartete. Ihn zum Feind zu haben war eine schwere Bürde.
An diesem Morgen blickte Sethur früher als gewöhnlich in seine Schale der Offenbarungen. Dieses unscheinbare kleine Messinggefäß mit den beiden Henkeln diente dem Jäger dazu, mit seinem Gebieter in Kontakt zu treten. Ein wenig Wasser in das Becken, dazu ein paar beschwörende Worte und schon begann sich die dunkle Oberfläche der Flüssigkeit zu kräuseln. Das Spiegelbild dessen, der hineinblickte, verschwand, bald darauf nahmen Dinge Form an, die jedem Sterblichen besser auf immer verborgen geblieben wären. Sethur benutzte die Schale nur widerwillig. Doch Bar-Hazzat bestand darauf, dass sein Jäger ihm regelmäßig Bericht erstattete.
Ein unangenehmes Kribbeln lief über Sethurs Rücken, als das Wasser glatt und glänzend wie eine polierte Kupferscheibe wurde; nichts konnte es jetzt noch in Wallung bringen. In seiner geräumigen Kajüte breitete sich ein fahles Licht aus, ein kränklicher roter Schimmer, der die Konturen der Gegenstände im Raum fast aufzulösen schien.
»Du weißt, was sich zugetragen hat!« Eine körperlose Stimme erfüllte den Jäger, während ihn drei rot glühende Kohlen aus der Schale anblickten.
»Das zweite Auge…«
»Er hat es zerstört!«, zischte Bar-Hazzat. Hass und unbändiger Zorn schlugen Sethur entgegen. »Geschan muss Garmok, den Drachen, für sich gewonnen haben. Aber das wird ihm nichts nützen!«
Sethur hatte nicht das Gefühl, dass sich Bar-Hazzat in diesem Punkt wirklich
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