Isau, Ralf - Neschan 03
seinen Verlauf, als wolle er dem Fuß ausweichen, der im Begriff war, ihn zu betreten. Schweißtropfen standen dem Stabträger auf der Stirn. Er hatte die Augen geschlossen, verließ sich ganz auf die Kraft der Bewegung. Niemand wagte, seine Konzentration zu stören. Nur der Wind pfiff ab und zu den vier Luftwandlern um die Ohren, während sie über den Abgrund liefen, als handele es sich um einen zugefrorenen See mit kristallklarer Oberfläche. Jeder Beobachter hätte sich mit kaltem Grausen abgewandt. Aber die Gefährten gingen weiter.
Kurz vor dem westlichen Rand des Loches blieb Gimbar stehen. Seine steifen Beine versagten ihm den Dienst, sie zitterten. Er brachte den rechten Fuß nicht mehr richtig vor den linken; plötzlich rutschte er weg und sackte mit einem lauten Schrei nach unten.
Das Seil ruckte heftig, aber es hielt. Helfende Hände griffen zu und zogen Gimbar wieder auf den unsichtbaren Weg zurück. Für die restliche Strecke musste der völlig verängstigte Gimbar gestützt und geführt werden. Erst als er in ausreichendem Abstand von der Kante des Schlundes abgesetzt worden war, löste sich allmählich seine Verkrampfung. Worte fand er allerdings noch nicht, seine vermeintliche Schwäche war ihm sichtlich peinlich. Yonathan und die anderen mussten ihre ganzen Überredungskünste aufwenden, um ihm langsam wieder Selbstvertrauen einzuflößen.
Es dauerte eine Weile, bis er wieder den Blick heben und sprechen konnte. »Ich bin dir nur ein Klotz am Bein, Yonathan. Lass mich hier sitzen und vernichte die restlichen beiden Augen allein. Glaub mir, du wirst es wesentlich einfacher ohne mich haben.«
»Unsinn! Jeder von uns trägt seinen Teil am Erfolg dieses Unternehmens.«
»Aber nicht ich.«
»Jetzt hör endlich auf, dich selbst zu bemitleiden, Gimbar. Wer war es denn, der mich einst vor Asons Pfeil gerettet hat? Durch wen haben wir die Unterstützung der Ostleute gewonnen – durch mich oder dich, den Träger des Mals? Deine Schliche haben uns schon oft geholfen, Gimbar. Denk nur an den Glühenden Berg. Die Idee mit dem Wirbelsturm stammte schließlich von dir. Und wenn du mir nicht den Kopf gewaschen hättest, nachdem der Wächter mich den Vulkan hinuntergejagt hatte, wäre vielleicht sogar mir der Mut gesunken. Wir brauchen dich, Gimbar!«
»Bisher haben wir zusammen doch so ziemlich jede Gefahr gemeistert«, fügte Yomi aufmunternd hinzu. »Gemeinsam schaffen wir auch noch den Rest – vorausgesetzt, du machst mit, Gimbar.«
»Du darfst ihnen ruhig glauben«, sagte Din-Mikkith mit seinem merkwürdigen Lächeln. »Sie sind deine Freunde. Und ich halte ebenfalls zu dir. Komm jetzt, wir wollen die Weltwind suchen gehen.«
»Din-Mikkith, liebes Din-Mikkith«, vervollständigte Girith die ausgesprochenen Ermunterungen. Gimbar kam endlich auf die Beine.
»Was bin ich froh, wenn ich erst wieder die Planken eines Schiffes unter mir habe!«, murmelte Gimbar in einem fort, während er im Gefolge seiner Gefährten die letzten Meilen zur Küste zurücklegte.
Vor dem westlichen Zugang zum Abgrund ragte ein großer Berg auf, den es noch zu umgehen galt. Diesem natürlichen Sichtschutz war es zu verdanken, dass nur wenige im Laufe der Jahrtausende das Eintrittstor in das Verborgene Land vom Meer her entdeckt hatten. Diejenigen, denen dies gelungen war, schmückten jetzt die Innenwände des Gemmenschlundes – als menschenkopfgroße Juwelen.
Die Sonne war schon versunken, als die vier Wanderer den Berg an seiner Nordflanke umrundet hatten. Der Wind trug den salzigen Geruch des Meeres herüber. Möwen schrien in der Ferne. Gimbar lebte sichtlich auf.
Nahe bei den Klippen fanden sie einen geeigneten Platz, um die Nacht zu verbringen. Die Dunkelheit hatte sich schon fast völlig über das Meer gesenkt, als Din-Mikkith von seinem Beobachtungsposten herbeieilte.
»Ein Glühen!«, rief er aufgeregter, als man es von ihm gewohnt war. »Es ist grün. Draußen auf dem Meer. Und es kommt direkt auf uns zu.«
»Rakk-Semilath!«, sagte Yonathan. Seine Stimme war leise, tiefe Zufriedenheit schwang in ihr mit. »Schade, dass ich diesen Freund nicht in die Arme nehmen kann.«
XVII.
Der Jäger des Turms
Die Bath-Narga lief noch am gleichen Tag aus dem Hafen von Gedor aus. Bar-Hazzat hatte ausreichend Gelegenheit gehabt alle Vorbereitungen zu treffen, weil, wie er sagte, Geschan sich zu einem Fehler hatte hinreißen lassen. Ungefähr sechs Wochen zuvor hatte der junge Richter den Stab Haschevet benutzt
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