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Isau, Ralf - Neschan 03

Titel: Isau, Ralf - Neschan 03 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lied der Befreiung Neschans Das
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ihn allein ließen.
    Er winkte den Davonrudernden noch eine Weile nach, dann wandte er sich um und begann seinen Marsch zum Vulkan.
    Der Sandstrand war überall steinhart. Yonathan hatte Mühe, auf dem leicht welligen, spiegelglatten Untergrund das Gleichgewicht zu halten. Schließlich erreichte er aber doch den Waldrand ohne gestürzt zu sein.
    Seine Füße traten auf gefrorenes Gras. Die starren Halme zerbrachen knisternd unter dem Gewicht seines Körpers, er hatte fast das Gefühl, über ein Stoppelfeld zu laufen. Wenigstens kam Yonathan hier besser voran. Während er sorgfältig darauf achtete, den schützenden Mantel aus blauem Licht geschlossen zu halten, staunte er über die einzigartige Landschaft, die ihn umgab.
    Alles war weiß. Wie schon vom Schiff aus zu erkennen gewesen war, wirkten die Pflanzen auf eine seltsame Weise lebendig, als habe der Herbstnebel bei einem plötzlichen Kälteeinbruch die Natur mit einer dünnen Reifschicht überzogen und als seien nur ein paar wärmende Sonnenstrahlen notwendig, um sie von einem Augenblick zum anderen aus ihrem Schlummer zu wecken. Die Bäume und Sträucher waren nicht kahl wie ein verschneiter Laubwald im Winter, sondern trugen noch alle Blätter. Palmen hingen voll mit weißen Kokosnüssen, Johannisbrotbäume mit langen weißen Schoten und Affenbrotbäume mit gurkenförmigen weißen Früchten und… Yonathans Schritt stockte.
    Im Astwerk des Stammes, an dem er gerade hinaufblickte, hingen Fledermäuse. Weiße Fledermäuse! Sie waren genauso erstarrt wie alles andere auf dieser verfluchten Insel. Yonathan zwang sich seinen Weg fortzusetzen und kontrollierte zum hundertsten Mal seinen schützenden Schild.
    Eigentlich ganz normal, dass nicht nur die Pflanzen, sondern auch die Tiere eingefroren waren, versuchte er sich zu beruhigen. Und trotzdem war er entsetzt, als er immer mehr erstarrte Bewohner dieser Insel entdeckte. Zwischen weißen Blättern hockten bleiche Papageien, hingen farblose Affen oder spannten sich die gläsernen Netze von Spinnen. Bald auch stieß er auf Tiere, die am Boden von der Kälte überrascht worden waren: ein zum Sprung bereiter Jaguar, der sich einen Ameisenbären als Beute erwählt hatte, seit Jahrtausenden zögerte er nun schon seinen Angriff hinaus; eine Riesenschlange, die – eine dicke Schwellung an ihrem weißen Leib zeigte es deutlich – bei der Jagd erfolgreicher gewesen war, sich nun aber mit der Verdauung sehr viel Zeit ließ; und eine Entenmutter, die, hinter sich die Reihe ihrer Küken, zu einem Weiher strebte, den sie nie erreichen würde.
    Ein kalter Schauer lief über Yonathans Rücken. Was wie das Werk eines begnadeten Zuckerbäckers anmutete, war in Wirklichkeit das Produkt eines boshaften Geistes. Lange bevor Bar-Hazzat zum Fürsten über Temánah eingesetzt worden war, hatte Melech-Arez das Volk der Behmische vertrieben und ihre Insel mit Eis überzogen.
    Überhaupt, wurde sich Yonathan bewusst, mussten die unheilvollen Augen eigentlich älter sein als Bar-Hazzats Regentschaft, die ja kaum mehr als zweihundert Jahre währte. Schon vor Äonen hatte Melech-Arez diese Bannsteine in das Fleisch seiner Welt gepflanzt, um für die Zeit der Weltentaufe gewappnet zu sein. Sie sollten seinem ersten Diener, Bar-Hazzat, Augen und Ohren zugleich sein, sie sollten ihm helfen die Herzen der vernunftbegabten Geschöpfe zu verhärten, sollten sie unempfänglich machen für jedes Gefühl der Selbstlosigkeit und Liebe.
    »Aber diese Rechnung wird dank Yehwoh nicht aufgehen«, sagte Yonathan laut und erschrak dabei über seine eigene Stimme, einem Fremdkörper in dieser leb- und lautlosen Welt.
    Er hatte inzwischen das erste Drittel des Aufstiegs zum Vulkan gemeistert. Nur noch wenige erstarrte Bäume säumten seinen Weg. Über sich sah er die gewaltige Wolkensäule in den Himmel steigen. Welch eine Ironie! dachte er. Der Weltwind war nichts weiter als der zu Dampf gewordene Klageruf Neschans. Selbst seine eigene Welt verschonte Melech-Arez nicht, sondern quälte sie unablässig, bohrte mit eisigen Krallen in ihrem Fleisch.
    Yonathan rechnete jeden Augenblick mit dem Angriff. Selbst der blau flimmernde Schutz aus Licht konnte das Drängen des Auges nicht ganz abwehren. Es musste ganz nah sein. Doch so sehr er sich auch mühte, er konnte keinen Gegner entdecken.
    Auf halber Höhe zum Gipfel setzte ein starker Wind ein. Glitzernde Eiskristalle wehten in Schleiern den Berg hinauf. Die Sicht wurde immer schlechter. Bei jedem Schritt bohrte

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