Isau, Ralf - Neschan 03
auf der Stelle, und trotzdem waren sie immer genau dort, wo Yonathan an ihnen vorbeischlüpfen wollte.
Nun lag die Pforte hinter ihm. Yonathan drehte sich noch einmal um und sah für einen Augenblick sich selbst und dahinter den Behmisch in den flimmernden Kreis treten; im Hintergrund stand Benel. Dann verschwamm das Bild, und Baru-Sirikkith kam allein zwischen den Hütern hervor. Von Benel aber fehlte jede Spur.
Yonathan würde sich nie an das plötzliche Auftauchen und Verschwinden von Yehwohs Boten gewöhnen können. Aber er fühlte sich durch die Gegenwart Benels immer erstaunlich erfrischt. Als Yonathan, in der Hand den Stab Haschevet, und der Behmisch Baru-Sirikkith im Garten aufbruchbereit gewesen waren, hatte der Bote Yehwohs ihn noch einmal ermuntert, auch den letzten Abschnitt seines Weges ohne Zögern zu beschreiten. Die Zeit sei sehr knapp, hatte Benel gemahnt, und Bar-Hazzats Wut gewaltig, jetzt da auch sein fünftes Auge zerstört war.
»Ich bin sicher, du hast aus dem heutigen Tag einiges gelernt«, sagte der Bote. »Wenn du dem dunklen Herrscher gegenüberstehst, benutze die Waffen des Lichts. Er wird versuchen dich auf seine Seite zu ziehen, auf die Seite der Finsternis und des Hasses. Aber wenn du dich daran erinnerst, weshalb Yehwoh dich für diese schwere Aufgabe auserwählte, dann wird es dir gelingen, ihm zu widerstehen.«
Yonathan hätte sich gern noch nach der Beschaffenheit dieser »Waffen des Lichts« erkundigt und einen ausführlicheren Ratschlag gewünscht, wie er sein letztes und wohl auch gefährlichstes Gefecht bestehen könnte. Aber Benel meinte nur, wenn die Zeit gekommen sei, werde er schon wissen, was er tun müsse.
»Werden wir uns Wiedersehen?«, fragte Yonathan zum Abschied.
»Nicht in dieser Welt«, antwortete Benel.
Yonathan nickte stumm. Er hätte seinen übernatürlichen Helfer gerne umarmt, aber er wusste nicht recht, ob dies bei einem Boten Yehwohs angebracht war… Er beschränkte sich dann schließlich darauf, Benel für alles zu danken, und wandte sich darauf dem kreisenden Schwert zu.
Jetzt, auf der anderen Seite der flirrenden Pforte, fragte er sich, was Benel wohl damit gemeint hatte, als er zum Abschied sagte, zwischen hier und dem Schwarzen Turm von Gedor gäbe es noch eine andere Prüfung, die er zu bestehen habe. »Erinnere dich an Goels Worte: ›Auge und Ohr sind sehr leichtgläubig, Geschan. Schau in dich hinein. Höre auf dein Gefühl – das, was du von mir gelernt hast.‹ Wenn es dir gelingt, das Licht in der Finsternis zu sehen, wirst du einen wertvollen Helfer finden.«
An Baru-Sirikkiths Seite betrat Yonathan nachdenklich den Höhlengang, durch den er erst vor kurzem gekommen war.
Yonathans Augen gewöhnten sich schnell an die Dunkelheit. Oder lag es daran, dass es in der Höhle jetzt etwas heller war? Als er mit Baru-Sirikkith das Torflager erreichte, fand er die Lösung des Rätsels. Das Eis in der Spalte, die vom gefrorenen Panzer des Vulkans bis zur Grenze Gan Edens herabreichte, war verschwunden, die Eismassen des Berges hatten sich aufgelöst. Seltsamerweise entdeckte Yonathan in der Höhle keine Spur von Schmelzwasser.
Baru-Sirikkith deutete auf die in mattem Dämmerlicht schimmernde Öffnung hoch oben und zischelte etwas.
»Du meinst, wir sollen da hinaufklettern?«, fragte Yonathan.
Der Behmisch machte eine Handbewegung, die wohl als Bestätigung zu verstehen war.
»Dann lass uns losgehen.«
Einmal mehr musste Yonathan feststellen, dass der biegsame Körper der Behmische sie für Klettertouren geradezu prädestinierte, während menschliche Wesen im Vergleich zu ihnen immer etwas steif und unbeholfen wirkten. Der Spalt erwies sich größtenteils als hoch genug, um den Anstieg in aufrechter Haltung bewältigen zu können. An einigen Stellen jedoch kam die Feisendecke so nahe, dass Yonathan auf allen Vieren kriechen musste und sich dabei fragte, wie er bei seiner Rutschpartie überhaupt unversehrt das Ende der Bahn hatte erreichen können.
Das letzte Stück des Einschnitts war noch einmal ziemlich steil. Grelles Sonnenlicht flutete durch die nun eisfreie und dadurch breitere Öffnung. Als sich Yonathan über die Kante der Spalte schob, traute er zunächst seinen Augen nicht.
Die Vergessene Insel hatte sich in ein grünes Paradies verwandelt, ebenso üppig bewachsen wie der Garten, der hinter ihnen lag. Von fern ertönte der Schrei eines Greifvogels. In der Nähe flatterte ein Schmetterling vorbei. Selbst die Wolkensäule über dem
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