Isau, Ralf - Neschan 03
Vulkankegel war verschwunden – der Weltwind hatte aufgehört zu existieren.
Dafür konnte man jetzt, da kein Schneesturm mehr die Sicht behinderte, die Weltwind tief unten in der Bucht vor Anker liegen sehen, ein winziges Schiffchen auf glitzernden Wellen.
»Dort wartet Din-Mikkith auf dich«, sagte Yonathan und deutete den Berg hinab.
Baru-Sirikkith musste ihn wohl verstanden haben, denn die grüne Hautfarbe wurde um einen Ton dunkler und seine Stimme raschelte eine längere Antwort.
Der Abstieg von der Flanke des Vulkans war unerwartet schwierig. Der Eispanzer hatte vorher viele Schrunde verschlossen und Klippen überdeckt. Nun zeigte sich der Hang in seiner ursprünglichen Form, und Yonathan und sein Begleiter mussten einige Umwege in Kauf nehmen.
Das aus jahrhundertelangem Schlaf erwachte Leben machte diese Mühen aber bei weitem wett. Selbst hier, am Hang, schmiegten sich saftige, blumenbunte Wiesenmatten in jede Mulde, die den Wurzeln genügend Halt gab. Ein würziger Duft stieg in Yonathans Nase, der ihn an die Weiden der schottischen Highlands erinnerte, an Jabbok House, an seinen Großvater…
Weiter unten stießen die beiden Wanderer auf Büsche und einige niedrige Kiefern. Bald würden sie den dichten Urwald erreichen, der den größten Teil der Insel bedeckte. Yonathan verfolgte mit den Augen gerade einen flüchtenden Hasen, als Baru-Sirikkith ihn plötzlich am Arm festhielt und nach vorne deutete.
Kaum vier Schritte entfernt kreuzte wieder eine Spalte ihren Weg. Sie war zu breit, um einfach darüber hinwegzuspringen, und Yonathan konnte auch nicht absehen, wo sie endete. Da er wenig Lust verspürte, sie zu umgehen, bedeutete er Baru-Sirikkith, einfach in den Spalt hinabzusteigen. Der Einschnitt erwies sich als nicht sehr tief und seine Wände waren so zerklüftet, dass es kein großes Problem darstellen sollte herab- und auf der anderen Seite wieder emporzuklettern.
Der Behmisch ging voraus. Mit sicheren Tritten und Griffen bewegte er sich den Fels hinab. Yonathan tat sich da schon etwas schwerer, aber auch er erreichte wohlbehalten den Grund der Kluft. Er stemmte die Hände in die Seiten und blickte nach oben. Der Spalt mochte sechzig, höchstens siebzig Fuß tief und hier unten etwa zwanzig Fuß breit sein; nach oben hin weitete er sich. Der Fels war völlig kahl, es gab kein Moos, keinen Grashalm, nur Steine. Als wäre der Erdboden gerade erst aufgerissen, dachte Yonathan, wie eine klaffende Wunde.
Es war besser, schnell hier herauszukommen. Die Sonne stand schon tief. Bald würde die Insel in Dunkelheit versinken. Vielleicht waren mit den Hasen, Greifvögeln und Fledermäusen auch weniger freundliche Inselbewohner aufgetaut. Gerade wollte er sich Baru-Sirikkith zuwenden, um ihm ein Zeichen zu geben, als er aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahrnahm. Instinktiv fuhr er herum und hob den Stab Haschevet zur Abwehr. Als Yonathan erkannte, wer da hinter einem Felsen hervortrat, gefror ihm fast das Blut in den Adern.
»Sethur!«
Das Gesicht des Temánahers hatte sich verändert. Es war hager geworden, wirkte stark gealtert, seit sie das letzte Mal aufeinander getroffen waren. Als Sethur seine Stimme erhob, klang sie ruhig, aber Yonathan spürte die Anspannung des Mannes.
»Ihr habt mich nicht vergessen, Geschan. Das ehrt mich.«
»Wie könnte ich«, antwortete Yonathan schroff.
Ein Lächeln gleich dem Schatten einer Sturmwolke flog über das Gesicht des hochgewachsenen Mannes. »Natürlich. Der Stab.«
Yonathan verfolgte jede seiner Bewegungen, bereit, sofort das Feuer Haschevets loszulassen. Auch Baru-Sirikkith bemerkte, dass dies kein Treffen zweier alter Freunde war und verhielt sich völlig ruhig.
»Seid Ihr wieder einmal gekommen, um mich aufzuhalten? Wollt Ihr einen weiteren vergeblichen Versuch unternehmen?«, rief Yonathan herausfordernd. Er musste seinem Widersacher gegenüber unerschrocken erscheinen. »Sprecht schnell, denn Ihr werdet nicht mehr lange reden können.«
»Ich bin gekommen, um es zu Ende zu bringen. Zu lange schon haben die Dinge einen falschen Verlauf genommen.«
Yonathans Gedanken arbeiteten fieberhaft. Mit den Augen suchte er nach einer Fluchtmöglichkeit, aber es gab keine. Sethur hatte den Ort dieser letzten Begegnung sorgfältig gewählt, der Stabträger saß in der Falle. Hatte der Heeroberste Bar-Hazzats nicht damals prophezeit, als sein Schiff, die Narga, im Weißen Fluch versunken war: »Und ich werde dich doch bekommen, Yonathan!«? Nun war es also
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