Isau, Ralf - Neschan 03
soweit. Er war gekommen, »um es zu Ende zu bringen«. Das konnte nur bedeuten, dass er eine neue, womöglich übernatürliche Waffe besaß, eine Waffe, von der er glaubte, dass sie den siebten Richter besiegen würde. Yonathan musste sich schnell etwas einfallen lassen, bevor es zu spät war.
»Zieht in Frieden Eures Weges, Sethur, denn Ihr könnt mir nichts anhaben«, sprach er mit fester Stimme. Er hoffte überzeugend zu klingen. Sosehr er auch nachdachte, er fand nur einen Ausweg aus der bedrohlichen Lage, in die er geraten war: Er musste Sethur mit dem Feuer Haschevets vernichten.
In Yonathan sträubte sich alles gegen diese Lösung. Irgendetwas stimmte nicht. Warum war Sethur hier? Warum hatte ihn der Grenznebel von Gan Mischpad damals nicht verschlungen? Yonathan erinnerte sich seiner eigenen Worte, die er einmal bedauernd zu Felin gesprochen hatte. »Er hätte gewonnen werden können.« Für ihn war Sethur fehlgeleitet. Immer wieder hatte er ihn tot geglaubt, doch nie war er wirklich froh darüber gewesen. Und nun sollte er den Schmerz über ein unnütz zerstörtes Leben ein weiteres Mal ertragen? »Gerechtigkeit ist manchmal sehr hart«, hatte Großvater einst gesagt, »nicht nur für den Bestraften, auch für den Richter.«
Sethur bewegte sich. Kein Zweifel, er wollte gegen den Stabträger vorgehen. Zielsicher und gnadenlos. Sethurs Gesicht erschien dabei seltsam ruhig. Die Wut stieg in Yonathan hoch: Wenn es denn sein musste und er ihm wirklich keine andere Wahl ließ, dann wollte auch er es beenden. Hier und jetzt!
Yonathan sammelte all seine Kraft und vereinte sie mit der todbringenden Macht des Koach. Dann reckte er den Stab Haschevet wie ein Schwert in die Höhe und schrie verzweifelt, mit überschlagender Stimme: »Geh deinem Herrn voraus und schmecke das Licht Yehwohs, bevor die Finsternis dich auf ewig umfängt!«
Gerade wollte er das Feuer Haschevets auf ihn herabrufen, als Sethur abwehrend eine Hand hochhob und mit fester, ruhiger Stimme sprach: »Willst du wirklich das Licht Yehwohs beflecken? Öffne doch deine Augen, Geschan. Wenn es dir gelingt, das Licht in der Finsternis zu sehen, wirst du einen wertvollen Helfer finden.«
Verblüfft hielt Yonathan inne. Was hatte sein Gegenüber da eben gesagt? Waren das nicht genau dieselben Worte, die Benel ihm erst vor kurzem zum Abschied mitgegeben hatte?
Wie konnte Sethur davon wissen? Oder war er der Helfer…? Noch ehe Yonathan zu einer Erwiderung ansetzen konnte, hörte er erneut Sethurs Stimme. Sie klang furchtlos, aber doch auch beschwörend.
»Ich bin Euer Freund, Geschan. Ich bin gekommen, um Euch zu helfen. Viel zu lange habe ich auf der Seite der Finsternis gestanden, aber Ihr habt mein wahres Wesen erkannt. Wisst Ihr nicht mehr? Damals, in der Wüste Mara? Als wir uns vor dem Grenznebel von Gan Mischpad trafen, habt Ihr meine Schwerthand berührt und zu mir gesagt, Ihr wolltet meinen bösen Taten nicht noch weiteres Unrecht hinzufügen. Und dann fuhrt Ihr fort: ›Ich will dir verzeihen, für alles, was du glaubst tun zu müssen.‹ – Ich hatte Jahre Zeit darüber nachzudenken. Im Schwarzen Turm zu Gedor wurde mir erst bewusst, dass ich irregeleitet war; dass, sollte Melech-Arez letztlich siegen, eine viel schlimmere Dunkelheit als die, die mich im Turm von Gedor gefangen hielt, die ganze Welt Neschan verschlingen würde. Nur die vollkommene Liebe, die Ihr mir erwiesen habt, scheint der richtige Weg…«
»Es ist genug!«, unterbrach Yonathan ihn, fast zu heftig. Doch er war aufgewühlt, musste sich ein wenig Zeit verschaffen, um seine Gedanken zu ordnen. Er ließ die Hand, die Haschevet umfasst hielt, sinken, setzte den Stab zwischen sich und Sethur auf den Boden und spürte, was der andere empfand. Der einstige Heeroberste Bar-Hazzats sprach die Wahrheit, seine Gefühle offenbarten es. Er konnte die Erkenntnis kaum fassen: Sethur sein Freund? Und doch war es so. Nachdem jener den ersten Schritt getan hatte, lag es nun an ihm, Yonathan, dem neuen Verbündeten die Hand zu reichen und Sethur den letzten Zweifel zu nehmen.
Der Stabträger sagte deshalb in sanftem Ton: »Ich habe mich blenden lassen, Sethur. Zweimal an diesem Tag war ich sicher, das Richtige zu tun. Und zweimal habe ich mich getäuscht. Jetzt verstehe ich, was Benel meinte, als er sagte, zwischen hier und dem Schwarzen Turm von Gedor stünde mir noch eine andere Prüfung bevor. Er sprach von Euch, Sethur. Wie konntet Ihr nur wissen, was Benel zu mir sagte? Hättet Ihr
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