Isau, Ralf - Neschan 03
bringen. Wir bereiten auch ein Bad für jeden und einige Speisen. Er bittet Euch, ihn noch einen Moment zu entschuldigen. Gleich wird er wieder bei Euch sein.«
Yonathan war sofort Yomis sonderbare Reaktion aufgefallen, als die Sklavin zu sprechen begonnen hatte. Der Seemann zuckte zunächst zusammen, blickte von den Büchern auf – erst verstohlen, dann wie gebannt – und ging schließlich langsam auf die Frau zu. Auch Gimbar bemerkte jetzt das merkwürdige Verhalten seines Freundes.
Yomi wirkte wie ein Schlafwandler. Er stieß gegen Stühle, die sich um den Tisch reihten, aber nahm es überhaupt nicht wahr. Seine ganze Aufmerksamkeit galt der Sklavin.
Das eigenartige Betragen des Fremden war natürlich auch der älteren Frau nicht entgangen. Ein paarmal hatte sie verschämt zu dem schlaksigen jungen Mann aufgeblickt, der sich ihr da so zielstrebig näherte. Aber je mehr ihr bewusst wurde, dass er geradewegs auf sie zusteuerte, umso unsicherer wurde sie. Yomi nahm der Sklavin das Tablett aus den Händen, und während er den Oberkörper beugte, um es auf den Tisch zu stellen, versuchte er einen Blick auf das Gesicht der scheuen Dienerin zu werfen.
Yonathan sah kurz zu Gimbar hinüber, der ratlos an seiner Nase zupfte; auch er konnte sich keinen Reim auf das Geschehen machen.
Yomi hob nun sanft das Kinn der Frau an, um endlich ihr Gesicht richtig sehen zu können. Sie ließ ihn gewähren, und je länger sie Yomis Blick standhielt, umso mehr veränderte sich der Ausdruck in ihren eigenen Augen.
Haschevet gestattete Yonathan eine tiefere Sicht in die Gefühle der beiden Menschen, die sich da gegenüberstanden, und deshalb erkannte er, was in ihnen vorging, noch bevor Yomis Mund das eine Wort aussprach – sehr behutsam, sehr leise, als fürchte er einen Vogel zu verscheuchen.
»Mutter?«
Die Antwort der Sklavin kam beinahe ebenso zaghaft.
»Yomi?«
Das waren die letzten Worte, die für eine längere Zeit in Sethurs Bibliothek zu hören waren. Yomi nickte. Ein einziges Mal. Zu viel mehr war er nicht imstande.
Seine Mutter und er fielen sich in die Arme und Yomi begann zu schluchzen wie ein kleiner Junge.
Auch Yomis Mutter weinte, und als Yonathan wieder zu Gimbar hinüberschaute, strahlte das Gesicht seines Freundes.
Während Yonathan sich mit dem Ärmel die feuchten Augen trocknete, dachte er an Felins Worte, die dieser einst in den Tiefen des Palastberges von Cedanor zu ihm gesprochen hatte. »Die Hoffnung ist wie eine Tamariske: Sie ist selbstgenügsam und gedeiht sogar in einer dürren, kargen Wüstengegend, und sie hat schon manchem mutlosen und erschöpften Wanderer Kraft gespendet, indem sie ihm Schatten gab.«
Und nun war auch Yomis stilles Hoffen wider alle Erwartung und Vernunft in Erfüllung gegangen. Er hatte seine Mutter wieder gefunden. Als Yonathan vor Jahren mit dem schlaksigen, oft etwas unbeholfen wirkenden Seemann auf der Weltwind gefahren war, hatte Yomi bewegt erzählt, wie ihn seine Mutter beim Überfall der temánahischen Horden auf Darom-Maos in einem Erdloch im Stall versteckte. Als die plündernde und mordende Schar endlich vorübergezogen war, hatte Yomi keine Eltern mehr. Obgleich er ihre Leichen nicht fand, musste er natürlich annehmen, sie seien umgebracht worden wie so viele andere auch.
Der dunkelste Punkt in Yomis Leben erhellte sich mit dem Aufgehen der Sonne über Gedor. Nicht nur seine Mutter befand sich im Hause Sethurs, sondern auch sein Vater diente dort als Verwalter. Beide hatten über das Anwesen Sethurs gewacht, während dieser im Schwarzen Turm schmachtete. Beide besaßen Sethurs Vertrauen. Beide hatten nie die Hoffnung aufgegeben, weil sie wussten, dass ihr Sohn in Freiheit war.
Die Nacht war bereits verstrichen und noch hatte niemand nach der überraschenden Familienzusammenführung Ruhe gefunden. Das Frühstück schließlich dehnte sich bis zum Mittag aus. Man hatte sich viel zu sagen. Yomi berichtete von Kapitän Kaldek und von seinem »unheimlich guten Freund Yonathan«, der nebenbei auch noch der siebte Richter von Neschan war. Die Eltern erzählten, wie es ihnen ergangen war, nachdem man sie aus Darom-Maos verschleppt hatte. Und Sethur füllte die Lücken zwischen den einzelnen Geschichten.
»Jetzt erst verstehe ich Euren Zorn, Yomi, als wir Euch am Südkamm gefangen nahmen und auf die Narga brachten. Ihr habt mich damals angeklagt, ich würde ganze Familien austilgen. Ich weiß noch genau, wie Ihr mir vorwarft: ›War es nicht die Narga, die vor zehn
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