Isau, Ralf - Neschan 03
schwere Tür lautlos öffnete. Vier Schatten schlüpften unbemerkt in die Stadt des Schwarzen Turms.
»Ihr scheint diesen netten Hinterausgang des Öfteren zu benutzen«, meinte Gimbar.
»Irgendwie ist und bleibt er ein Pirat«, drang Yomis Stimme durch die Finsternis. »Na, wenigstens scheint es ihm wieder gut zu gehen.«
Man hörte das Schlagen eines Feuersteins und wenig später flammte in Sethurs Hand eine Fackel auf. »Mein Haus wurde vor langer Zeit von einem General gebaut, dessen oberstes Gebot die Vorsicht war – eine sehr vernünftige Lebensmaxime in diesem Land. Ich dachte mir, dass sich seine Vorausschau vielleicht auch eines Tages für mich auszahlen könnte und habe daher diese Türscharniere immer sorgfältig fetten lassen.«
Yonathan erinnerte sich der Bedeutung von Sethurs Namen, dem jener bisher alle Ehre gemacht hatte: der im Verborgenen Wirkende. Er hätte nie gedacht, dass diese Eigenschaft seines ehemaligen Widersachers ihm einmal von Nutzen sein würde.
»Doch nun lasst uns nach oben gehen«, forderte Sethur seine Begleiter auf. »Dort wartet eine Dienerschar nur darauf, uns jeden Wunsch von den Augen abzulesen.«
Während die vier eine nicht enden wollende Wendeltreppe emporstiegen, erinnerte Yonathan sich an das, was Sethur von dem Leben in Temánah erzählt hatte. Hier besaß fast jeder Haushalt seine Sklaven, bedauernswerte Geschöpfe, die regelmäßig auf Streifzügen durch die Grenzgebiete eingefangen wurden. Dank Bomas’ wachsamen Truppen in der Südregion des Cedanischen Reiches hatte Temánah in letzter Zeit unter einem gewissen Mangel an Dienstpersonal gelitten.
Sethur selbst berührte das wenig. Als Heeroberster hätte er jeden Sklaven haben können, der ihm gefiel. Aber sein Haus hatte schon seit rund einem Dutzend Jahre keine neuen Gesichter mehr gesehen. Sethur selbst stammte von Vorfahren ab, die vor langer Zeit nach Temánah verschleppt worden waren – nur wenige wussten davon. Vielleicht war dies auch der Grund, weshalb er seine Sklaven immer gut behandelte. Sie waren zwar Diener, aber er respektierte sie als Menschen, sorgte für ihre Bedürfnisse und schützte sie vor der Willkür der temánahischen Beamten. Er galt als strenger, aber gerechter Herr. Und deshalb genoss er auch die Achtung und das Vertrauen seiner Sklaven, selbst noch nach den drei Jahren, in denen er geächtet und namenlos war.
Am oberen Ende der Treppe stießen sie wieder auf eine Tür. Sethur benutzte erneut seinen Schlüssel, schob einen Riegel zurück und ließ seine Gäste auf einen prachtvoll ausgeschmückten Gang hinaustreten.
Gimbar drängte sich hinter Yonathan auf den Flur und pfiff anerkennend. »Das nenne ich die gehobene temánahische Lebensart.«
»Ihr seid vermutlich die ersten freien Ausländer, die so ein Haus zu sehen bekommen«, bemerkte Sethur. Er ging zielstrebig auf eine andere, breite Tür zu, die sich schräg gegenüber befand, und öffnete deren beide Flügel. »Kommt bitte hier herein«, forderte er seine Gäste auf. »Ich sage inzwischen der Dienerschaft Bescheid.«
Yonathan, Gimbar und Yomi schauten ihrem Gastgeber hinterher, der den breiten, mit Teppichen, Gemälden, Statuen und Waffen verschwenderisch ausgestatteten Flur hinabeilte.
»Ob der aus Gold ist?«, fragte Gimbar seinen langen Freund mit Blick auf einen prächtigen, funkelnden Schild, der ganz in der Nähe an der Wand hing.
Yomi verdrehte die Augen.
»Lasst uns in den Raum gehen und warten, bis er zurückkommt«, sagte Yonathan.
Sie betraten ein quadratisches, holzgetäfeltes Gemach, in dem ein großer, runder Tisch stand. Regale mit unzähligen Büchern bedeckten die Wände; sie mussten ein Vermögen wert sein. Fenster waren keine zu sehen. Dafür wölbte sich eine mit runden Glasscheiben durchbrochene Decke über dem Zimmer.
»Ich hätte nie gedacht, dass Temánaher auch lesen«, sagte Yomi, während er die Buchreihen abschritt und versuchte die Titel zu entziffern.
»Ein guter Stratege darf kein Dummkopf sein«, meinte Gimbar. Er hatte sich in den einzigen Sessel geworfen, der in dem Raum stand.
Yonathan nickte. »Man sollte nicht nur seine Freunde gut kennen, sondern auch seine Feinde.«
In diesem Moment betrat eine Frau die Bibliothek. Sie mochte an die fünfzig Jahre zählen und trug ein Tablett mit einem Krug und vier Kelchen darauf. Ihr Blick war gesenkt, als sie die Gäste begrüßte.
»Seid willkommen, Fremde. Aller Friede sei mit Euch. Mein Herr schickt mich, Euch diese Erfrischung zu
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