Isau, Ralf - Neschan 03
einer Möglichkeit, sandte Stoßgebete aus. Es musste einen Ausweg geben!
Der Priester näherte sich.
Gimbar, Yehsir und sich selbst unsichtbar machen? Der Schwarze würde es bemerken.
Er war nur noch einen Tisch entfernt.
Die Gesichter verändern? Bar-Hazzats Sklave würde sofort Alarm schlagen.
Es sei denn…
Die schwarze Gestalt hatte den letzten Tisch erreicht. Ihre kalten Augen streiften flüchtig über Gimbar und Yehsir – und blieben auf Yonathan haften!
Für einen winzigen Augenblick spiegelte sich Triumph in der bleichen Miene des Priesters wider, vielleicht sogar etwas wie Stolz und Vorfreude. Dieses kurze Verharren war Yonathans Rettung. Alle Regungen, die bisher noch das Gesicht des kahlköpfigen Mannes beherrscht hatten, verschwanden, waren auf einmal wie weggewischt.
Mit ausdruckslosen, leeren Augen schritt der schwarze Priester weiter und lief gegen die Rückwand des Gastraums. Dem Krachen des Aufpralls folgte das dumpfe Hinschlagen des Bewusstlosen auf dem Lehmboden.
Als wäre dies ein verabredetes Zeichen, das alle schon lange erwartet hatten, setzte sogleich der ursprüngliche Lärm im Schankraum wieder ein. Laute Stimmen, unverhohlen schadenfroh, kommentierten das Geschehene mit deftigen Bemerkungen. Alle Gäste des Paradiesvogels waren auf die Beine gesprungen. Jeder wollte die leblos daliegende Gestalt des schwarzen Priesters sehen.
Nur unter großer Mühe und mit kräftigen Knuffen ihrer Lanzen gelang es den beiden Squak-Soldaten sich bis zu ihrem Schutzbefohlenen vorzuarbeiten. Mit offenkundiger Ratlosigkeit untersuchten sie den Priester. Doch sie fanden keine Verletzung von der Klinge eines Dolches oder einer anderen Waffe, kein Blut, sie fanden nichts, nur leere Augen.
»Armer Vogel«, sagte einer der Soldaten mit seiner seltsam krächzenden Stimme. »Er atmet noch, aber sein Geist scheint ausgeflogen zu sein. Möchte wissen, wie das passieren konnte.«
»Nicht gerade eine flaumweiche Landung«, grunzte der andere und schüttelte seinen großen Kopf. An die Gäste gewandt, schnarrte er: »Hat irgendjemand gesehen, was geschehen ist?«
Er erntete nur lautes Johlen.
Der erste der Squaks übertönte das Geschrei mit einem hohen, unverständlichen Ausruf im Squak-Dialekt. Dann fassten die beiden den bewusstlosen Priester unter den Achseln und an den Beinen, um ihn aus dem Schankraum zu tragen.
Yonathan fühlte sich vollkommen ausgelaugt. Er starrte auf die Tischplatte vor sich und sein Atem ging schwer.
»Was hast du getan?«, fragte Gimbar entgeistert.
»Ich wusste keinen anderen Ausweg.«
»Keinen Ausweg als was?«
Kalter Schweiß stand auf Yonathans Stirn. Ein Zittern durchlief seinen Körper. Ohne aufzublicken antwortete er: »Ich habe seinen Geist ausgelöscht – in einem Augenblick.« Yonathans verzweifelte Augen begegneten dem besorgten Blick Gimbars. »Ich konnte ihm nichts vorgaukeln, uns weder unsichtbar machen noch unsere Erscheinung verändern; er hätte alles gemerkt. Also habe ich mir eine große, schwarze Leere vorgestellt und sie in seinen Kopf projiziert.«
Gimbar schluckte. Ihm wurde kalt und er begann sich die Oberarme zu massieren.
»Komm«, redete Yehsir beruhigend auf Yonathan ein. »Es ist besser, wenn du dich so schnell wie möglich hinlegst. Du brauchst jetzt Ruhe.«
Yonathan nickte.
Die drei verschwanden unauffällig durch eine Nebentür aus dem Schankraum und begaben sich in das Dachgemach.
Yehsir half dem völlig erschöpften Yonathan sich auszuziehen. Dann setzte er sich auf die Bettkante, sah ihn lange an und sagte eindringlich: »Ich muss dich noch etwas fragen. Es ist sehr wichtig!«
Yonathans Augen wurden klarer.
»Hast du den Geist des Priesters gänzlich zerstört oder nur für eine gewisse Zeit ausgelöscht? Wenn Letzteres zutrifft – wann wird er wieder zu sich kommen? Du verstehst, warum ich dich das frage?«
Yonathan nahm seine Kraft zusammen und antwortete: »Sobald er ganz erwacht ist, wird er Bar-Hazzat warnen. Ich weiß. Deshalb habe ich mich auch bemüht die Leere in seinem Geist so groß wie möglich zu machen.«
»Wie lange wird er also ohne Verstand sein?«
»Er kommt sicher bald zu sich, wird essen und trinken, aber nur leer vor sich hinstarren. Wann er wieder klar denken kann…?« Yonathan zuckte mit den Achseln. »Vielleicht in zwei oder drei Monaten, vielleicht aber auch schon in zwei Wochen. Ich habe so etwas Schreckliches noch nie getan…«
»Du hast keine andere Wahl gehabt«, sagte Yehsir. »Schlafe jetzt.
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