Isau, Ralf - Neschan 03
grünen Keim Din-Mikkiths zu Hilfe nehmen, um dem verfärbten Hengst in der »Sprache« der Lebenden Dinge Mut zuzusprechen.
Kehmar, der Wirt, hatte mittlerweile die starke Abnutzung seines Personals vergessen und zeigte sich sogar besorgt, dass er seine Gäste so eilig zur Weiterreise drängen musste.
»Ich habe schon immer gewusst, dass Nomaden ihre Tugenden verlieren, wenn sie sesshaft werden«, scherzte Yehsir. »Aber wir haben es sowieso sehr eilig. Du brauchst dir also keine Sorgen zu machen.«
»Ich danke dir, Bezel. Wenn du das nächste Mal kommst, dann wird alles anders sein, das verspreche ich dir.«
»Da hast du Recht, Kehmar.« Yehsir warf dem siebten Richter einen kurzen Blick zu. »Wenn ich das nächste Mal hier bin, dann wird wirklich alles ganz anders sein.«
Während der zwei folgenden Wochen kamen die drei Gefährten mit ihren neun Packtieren schwerer voran als vorher in der Steppe. Das lag nicht etwa daran, dass sie sich ständig vor schwarzen Priestern oder königlichen Truppen hätten verstecken müssen – erstaunlicherweise begegneten sie nur wenigen Soldaten und keinem einzigen »Schwarzrock«, wie Gimbar sie zu nennen pflegte. Dafür trafen sie aber immer wieder auf lästige Hindernisse: Manchmal hatte das Frühjahrshochwasser einen Teil der Straße weggeschwemmt, ein andermal musste eine Steinlawine umgangen werden; dann wieder galt es Schluchten zu durchqueren, die so zwischen zum Teil überhängenden Felswänden eingezwängt waren, dass ein Weiterkommen nur zu Fuß möglich war.
Yonathan hatte sich schnell wieder von der unseligen Begegnung mit dem temánahischen Priester erholt – zumindest äußerlich. Geistig fühlte er sich noch lange erschöpft. Erst nachdem er seinen Freunden erklärt hatte, warum dieser Vorfall ihm so zu schaffen machte, besserte sich seine Stimmungslage: Der Stab Haschevet hatte in Yonathans Händen schon früher erstaunliche Dinge vollbracht, durch ihn waren sogar Menschen getötet worden. Aber dies alles hatte sich damals völlig Yonathans Kontrolle entzogen: Seine Feinde hatten ihn angegriffen und es schien mehr eine unbewusste Schutzreaktion als ein bewusster Willensakt gewesen zu sein, die diese Männer das Leben gekostet hatte. Doch vor zwei Wochen war es anders gewesen: Yonathan hatte einen Weg gesucht den Priester auszuschalten, er hatte eine Lösung gefunden und sie folgerichtig bis zum schrecklichen Ende in die Tat umgesetzt. Er wünschte und hoffte das Koach nie mehr in dieser Weise gebrauchen zu müssen.
Der Frühling war schon bis in die mittleren Höhenlagen des Großen Walls vorgedrungen. Überall duftete, summte und brummte es. Wilde Kirschbäume überzogen die Berghänge mit weißen Tupfen, der Geruch von frischem Gras entströmte den Wiesen.
»Hinter dieser Biegung dort vorn müssten wir in das Sternental hinabblicken können«, verkündete Yehsir, etwa eine Stunde nachdem das Lager abgebrochen worden war.
»Und wann stoßen wir auf die Westliche Handelsroute?«, fragte Yonathan.
»Etwa gegen Mittag, ja. Morgen Abend können wir schon in Quirith sein.«
»Schon?«, fragte Gimbar. »Ich sitze seit vierzig Tagen im Sattel und du nimmst das Wort ›schon‹ in den Mund?«
»Ein Steppenreiter sitzt sein Leben lang im Sattel, Gimbar. Was sind da schon vierzig Tage?«, meinte Yonathan.
»Seht, dort!«, rief Yehsir, ohne noch auf Gimbar zu achten. Die Gruppe hatte die Wegbiegung erreicht und der Karawanenführer zeigte mit ausgestrecktem Arm auf eine atemberaubende Landschaft.
Das Sternental lag etwa eine halbe Meile unterhalb des Aussichtspunktes der drei Männer und es glitzerte und funkelte wie der Sternenhimmel in einer klaren Winternacht. Die Handelsroute, weit unten, war wie ein gelbbrauner Faden, der sich durch einen Teppich grüner Felder zog. Winzige bunte Punkte leuchteten überall: Squak-Bauern, welche die besondere, grüne Getreideart ernteten, die nur hier wuchs. Das Korn wurde bereits im Herbst gesät, sodass man schon im Frühjahr die Ähren von den Halmen ziehen konnte. Beim Abstreifen der Körner platzten die hauchdünnen Schutzhüllen an den Ähren auf und wurden vom Wind in die Luft emporgetragen. Millionen solcher feiner Häutchen schillerten dann wie Sternenstaub in der schräg stehenden Morgensonne, glitzerten in allen Regenbogenfarben. So hatte das Sternental seinen Namen erhalten.
»Am liebsten möchte man für ewig hier stehen bleiben und diesen Anblick genießen«, sagte Yonathan, ohne den Blick von dem Tal zu
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