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Isau, Ralf - Neschan 03

Titel: Isau, Ralf - Neschan 03 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lied der Befreiung Neschans Das
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er laut Anweisung des Khans weiterhin ein Fremder war, dem Misstrauen entgegengebracht werden sollte, genoss er doch inzwischen die Zuneigung der meisten Ostleute.
    Um die Mittagszeit hatte sich die Sippe in der gewohnten Manier versammelt. Diesmal fand die Zusammenkunft außerhalb des Wäldchens statt, dort, wo die Steppensonne unbarmherzig niederbrannte. Im Zentrum des Rings der Ältesten steckte die weiße Rose Aschereis. Sie war frisch und unberührt, wie gerade gepflückt.
    Sandai Yublesch-Khansib hatte seine ausführliche Einleitung bereits absolviert und kam gerade auf den Punkt.
    »Deshalb können wir nicht mit Sicherheit sagen, ob Ihr, Yonathan, der sich Geschan… Na, Ihr wisst schon. Dass Ihr jedenfalls nicht doch ein Diener Bar-Hazzats seid. Auch er besitzt übernatürliche Kräfte. Auch er könnte Wunder vollbringen. Wir dürfen kein noch so geringes Risiko eingehen.«
    Die Worte trafen Yonathan wie ein Faustschlag. »Aber Khan!«, entfuhr es ihm, ohne dass er die üblichen Höflichkeitsformen beachtete. »Öffne doch deine Augen! Ein Diener des dunklen Herrschers mag zwar über große Macht verfügen, aber er macht sicher keine Blumengeschenke. Wäre ich ein Verbündeter Bar-Hazzats, hätte ich deinen Sohn schon bei unserer ersten Begegnung zu Asche verwandelt. Ihr alle wärt längst nicht mehr am Leben. Warum leuchtet euch das nicht ein?«
    Yublesch-Khansib schlug verlegen die Augen nieder. Die Ratsältesten suchten nach Zugvögeln am Himmel oder überprüften den Sitz ihrer Kleidung.
    Nun fürchtete Yonathan ernsthaft, die Unterstützung dieser wertvollen Verbündeten zu verlieren. Hilfesuchend blickte er zu Gimbar, der neben ihm stand.
    Der ehemalige Pirat war schon immer sehr impulsiv gewesen. Und er beherrschte die Kunst sich in fremde Sitten und Gebräuche einzufühlen. Vielleicht konnte er mit einer Geste der Verzweiflung und Niedergeschlagenheit das Mitgefühl dieser Menschen wecken – viele Ostleute pflegten bei solchen Gelegenheiten mit großem Pathos ihr Obergewand zu zerreißen.
    Gimbar schien die Not Yonathans verstanden zu haben. Er griff sich wirklich an den Kragen und rief: »Lass es, Geschan. Wenn man dereinst das Lied der Befreiung Neschans singt, dann wird es keine Strophe geben, die den Mut und die Entschlossenheit dieser Menschen rühmt. Kehren wir ihnen den Rücken, auf dass wir allein unser schweres Los tragen.« Nach einer kunstvoll bemessenen Pause riss er sich in einer heftigen Bewegung das Hemd vom Leib.
    Mit der Reaktion, die nun folgte, hatte Gimbar nicht gerechnet. Gefühle zwischen Scham und Reue hatte er erwartet, aber nicht diesen Ausbruch. Nachdem, wie es schien, den meisten kurzzeitig die Luft weggeblieben war, begann sich zunächst ein aufgeregtes Flüstern bemerkbar zu machen, aus dem vereinzelte Jubelrufe erklangen, bis die einsetzende allgemeine Begeisterung sich schließlich zu einem ohrenbetäubenden Crescendo steigerte.
    »Dass ich so gut bin, hätte ich nun wirklich nicht gedacht«, bemerkte er zu Yonathan.
    Der lächelte geheimnisvoll und erwiderte: »Langsam wird mir klar, warum Goel darauf bestand, dass gerade du mich begleitest. Der alte Fuchs kennt die Ostleute wie kein Zweiter. Ich glaube, mein Freund, hier ist eben etwas geschehen, auf das diese Menschen schon ziemlich lange gewartet haben.«
    Yublesch-Khansib versagte inzwischen gründlich bei dem Versuch für Ordnung zu sorgen. Er erreichte eher das Gegenteil: Von hinten schoben sich die wehrtüchtigen Männer nach vorn und selbst diese mussten sich den zahlenmäßig überlegenen Frauen und Kindern geschlagen geben. Die Sippenältesten hatten alle Mühe nicht überrannt zu werden. Jahrhundertealte Traditionen gerieten ins Wanken. Es herrschte ein heilloses Durcheinander. Und in der Mitte von allem stand Gimbar. Hände klopften ihm auf die Schulter, Finger tasteten vorsichtig nach seiner Brust, jeder wollte ihn berühren. Gimbar hielt tapfer stand, wie ein Fels in der Brandung.
    So verstrich ein beträchtlicher Teil des Mittags – jedenfalls hatte Yonathan das Gefühl –, ehe sich die Menge endlich teilte und ein respektvolles Schweigen eintrat. Der Sippenälteste, der Vater des Ehrwürdigen Khans Sandai Yublesch-Khansib, schritt durch die Reihen seiner Sippe. Sein Rücken war gebeugt, sein Schritt nicht mehr ganz sicher. Vor Gimbar blieb er stehen und setzte zu einer Rede an, die, wie es seine Gewohnheit war, lang und inhaltsreich werden sollte.
    »Vor vielen Generationen, als Yehpas der vierte

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