Isau, Ralf - Neschan 03
Dolchträgers verlieh ihr ja Schärfe, eine Schärfe allerdings, mit der – immer nach dem Willen dessen, der die Klinge führte – sogar Eisen und Stein geschnitten werden konnten. Der Sohn des Khans durfte ihm keine Verletzung zufügen, wollte er nicht den Kampf oder sogar seine Ehre verlieren. Deshalb sollte der Dolch ungefährlich sein. Aber gesetzt den Fall, San-Yahib war zu allem entschlossen und ging davon aus, eine scharfe Waffe zu besitzen? Er selbst hatte ihm ja die Schneidefähigkeit des Dolches vorgeführt. Oder wenn er einfach nur – selbst mit der stumpfen Klinge – auf seinen Gegner einhieb? Dieser Koloss konnte einen Mann durch seine schiere Kraft mit einer Zeltstange erschlagen…
Yonathan hielt die Luft an, versuchte seine Brustmuskeln zu stählen, dann sauste San-Yahibs Hand nieder.
Nichts war passiert. Nicht das Geringste. Nur ein dünner, heller Strich war erkennbar, der sich direkt über Yonathans Herz mit dem Brustband kreuzte.
San-Yahib blickte ihn verblüfft an. Die Ostleute atmeten befreit auf.
»Aber ich habe dich getroffen«, beteuerte der Riese. »Warum ist nichts passiert?«
»Vielleicht musst du etwas fester schneiden«, ermunterte Yonathan ihn. »Versuch es noch einmal.«
»Du sagtest, ein einziger Streich für jeden.« Der Khan machte seine Rolle als Schiedsrichter geltend; ein wenig väterliche Fürsorge mochte auch mitspielen. »Mein Sohn hat verloren.«
»Ganz so war das nicht gemeint. Denn auch ich habe San-Yahib zweimal getroffen«, erwiderte Yonathan. »Er soll ruhig noch eine Chance bekommen.« Damit wandte er sich wieder dem Sohn des Khans zu, fasste dessen Hand, in der jener den Dolch hielt, und sagte: »Schau. Du musst die Klinge senkrecht durch die Luft führen. Dann schneidet sie am besten.«
Als er wieder von dem verunsicherten Krieger zurücktrat, hoffte er inständig, das rechte Maß seines eigenen Willens in den Dolch gelegt zu haben.
San-Yahib fixierte seinen Gegner erneut. Da Goels Waffe eine gerade Klinge besaß, schien sie als Hiebwaffe nicht so geeignet zu sein, wie es die Krummdolche der Ostleute waren. Der beste Dolchkämpfer seiner Sippe hielt die Waffe deshalb ein wenig verkrampft. Die fließenden Bewegungen, mit denen Yonathan seine kurze Attacke eingeleitet hatte, ahmte er dafür recht gekonnt nach. Schließlich stieß er einen Schrei aus und ließ die Klinge niedersausen.
Kurz darauf schrie Yonathan und blickte entsetzt auf den blutenden Strich auf seiner Brust. Alle Ostleute schrien auf.
Yonathan taumelte zu Boden, während er die Hände auf die Wunde an seiner Brust presste. Gimbar kam herbeigestürzt, um ihn zu stützen.
»Ist die Wunde tief?«, fragte er besorgt.
»Gerade tief genug«, raunte Yonathan ihm zu. Ein flüchtiges Lächeln huschte über seine Lippen.
Gimbar riss die Augen auf. »Du bist ja schlimmer als ich, Yonathan! Und so jemand will ein Vorbild sein.« Er war offenkundig erleichtert.
»Im Sepher heißt es: ›Seid listig wie die Schlangen.‹ Nichts anderes habe ich getan.« Yonathans Augen huschten über Gimbars Schulter. »Still jetzt! Der Khan kommt.«
Sandai Yublesch-Khansib war untröstlich. Händeringend stand er vor dem blutenden Gast.
»Dies ist ein schwarzer Tag in der Geschichte unserer Sippe und ein noch schwärzerer in derjenigen meiner Familie.« Entsetzen und Enttäuschung sprachen aus seiner Miene.
Yonathan rieb noch zusätzlich Salz in die Wunde des Khans. »Und ich hatte tatsächlich geglaubt, die berühmtesten Dolchkämpfer Neschans seien geschickter im Umgang mit ihren Waffen.«
Das Gesicht des Sippenführers verzog sich, als hätte er eine blutende Wunde empfangen. »Mein Herz ist schwer angesichts dieser Schmach. Aber Ihr hättet diesen Zweikampf trotzdem niemals einfordern dürfen. Ich werde jedoch mein Wort halten: Bleibt, so lange Ihr wollt. Wir werden Euch ein Zelt und Nahrung geben.« Er schluckte. »Und meinen Sohn werde ich noch heute davonjagen.«
Gimbar warf Yonathan einen ernsten Blick zu. Es war Zeit das grausame Spiel zu beenden. Sie wollten Freunde gewinnen und keine unwillig gewährte Gunst.
»Was Eure Gastfreundschaft anbetrifft, Ehrenwerter Khan«, Yonathan passte sich der leicht pathetischen Sprache des Sippenführers an, »so will ich sie dankend annehmen. Aber Euren Sohn behaltet getrost bei Euch. Meine Wunde ist nicht so schwer, wie sie scheinen mag. Bald werde ich wieder so munter sein wie Eure struppigen Steppenhengste.«
Zum ersten Mal seit der Ankunft der Gefährten
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