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Isau, Ralf - Neschan 03

Titel: Isau, Ralf - Neschan 03 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lied der Befreiung Neschans Das
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Mahlzeit fällig. Ohren, die im Laufe der Jahre gelernt hatten nutzlose Augen zu ersetzen, registrierten weitere Schritte: zwei Soldaten; der Klang der Stiefel war unverkennbar.
    Firn schob den Schlüssel in das Schloss. Knarrend und quietschend öffnete sich die Kerkertür. Der helle Schein zweier Fackeln blendete den Gefangenen.
    »Er hat befohlen Euch zu ihm zu bringen«, erklärte einer der beiden Soldaten.
    »Sirkath?«
    »Ihr kennt mich noch, Herr?«
    »Du hast mich vor Jahren in den Turm geworfen.«
    »Es war Bar-Hazzats Urteil Euch und Euren Namen aus Temánah zu tilgen. Ich habe nur einen Befehl ausgeführt.«
    »Natürlich. Er befiehlt – wir gehorchen.«
    »So kommt denn. Wir haben ein Bad vorbereitet, eine Mahlzeit und frische Kleidung. Bar-Hazzat hat angeordnet Euch in würdigem Zustand vor ihn zu bringen.«
    Fast zu spät, dachte der Jäger. Aber er nickte nur und folgte den beiden Soldaten.
    Der Schwarze Turm von Gedor besaß viele Treppen. Er ragte sechshundertsechsundsechzig Ellen in den Himmel und in seinem Innern hätte man alle Gebäude des Palastberges von Cedanor unterbringen können. Kein Bauwerk Neschans konnte sich mit ihm messen.
    Irgendwo im unteren Drittel des Turms widmeten sich Sklaven einer schwierigen Aufgabe: Sie versuchten den Jäger in einen Menschen zu verwandeln, und das innerhalb kürzester Zeit. Seine Haut wurde in heißem Wasser aufgeweicht, mit Schwämmen und Ästen des Karkamistrauches geschrubbt, geknetet und massiert, getrocknet und mit Öl eingerieben. Sein Haar wurde geschnitten und gekämmt. Sein hager gewordener Körper wurde mit kostbaren Gewändern umhängt. Seinem Magen führte man warme Speisen zu.
    Der Jäger ließ alles schweigend über sich ergehen. Es war beinahe ein Wunder, dass seine Arme und Beine noch so hervorragend funktionierten. Sicher, über all die Monate hinweg hatte er in der Finsternis seine Übungen fortgesetzt, hatte sich nie aufgegeben. Er wollte stark sein für den Tag, an den er beinahe nicht mehr geglaubt hatte, stark für die eine letzte Aufgabe, die er übernehmen würde.
    Und doch musste es mehr gewesen sein als nur sein eiserner Wille, was ihn über diese lange Zeit hinweg nicht nur am Leben, sondern auch bei körperlicher und geistiger Gesundheit erhalten hatte. Nicht als Todgeweihter, als stinkender, zerlumpter Kerkerinsasse, sondern als stolzer Krieger stieg er die Stufen hinauf. Dieses Privileg konnte er schnell wieder verlieren und er mahnte sich zur Vorsicht für das, was vor ihm lag.
    Bar-Hazzat würde ihn ganz oben erwarten, dort, wo nur wenige Zutritt erlangten. Der dunkle Herrscher verließ den großen, sechseckigen Raum nie, der die Spitze des Turmes krönte. Manche sagten, er könne es nicht, andere wiederum behaupteten, er müsse es nicht – Bar-Hazzats Geist sei in der Lage jeden Ort Neschans aufzusuchen, seine Diener trügen ihm jede gewünschte Information zu oder führten seine Anweisungen aus, wo immer er es befahl. Und er hatte die karminroten Augen, seine mächtigsten Verbündeten, die nun aus ihrer langen Ruhe erwachten.
    Endlich stand der Jäger vor der Tür, einer in die Wand eingelassenen sechseckigen Platte aus poliertem schwarzem Lavagestein. Die Soldaten mussten längst zurückbleiben, da nur Auserwählte den Weg bis hierher gehen durften.
    Ein unmerkliches Rucken ging durch die schwere Tür. Lautlos schwang sie in ihren Angeln, ohne dass die Hand eines Wächters sie berührt hätte.
    »Komm herein. Ich habe dich schon erwartet.« Die Stimme hatte sich nicht verändert: immer kalt, meist leise, nie gewogen.
    Der Jäger folgte der Aufforderung. Er trat in den weiten Raum, von dem aus man ganz Neschan überblicken konnte. Das Turmgemach war in derselben Farbe gehalten wie schon die Eingangstür und völlig schmucklos – menschliche Maßstäbe von Geborgenheit verloren hier ihre Gültigkeit. Da Bar-Hazzat nie ruhte oder gar schlief, gab es auch keine Möbel – mit Ausnahme eines sechseckigen Tisches in der Mitte des Raumes, einem massiven schwarzen Steinblock mit polierter Platte, der ein Zugeständnis an die menschlichen Diener des dunklen Herrschers darstellte, damit sie dort ihre Karten ausbreiten und ihre Schlachtpläne erläutern konnten.
    Der Jäger hasste diesen Tisch. Schon viele Generäle hatten dort ihre letzte Lagebeurteilung abgegeben. Anschließend waren sie im Fußboden verschwunden. Niemand wusste, ob es in der Nähe des Tisches eine Falltür gab oder ob Bar-Hazzat einfach an jeder beliebigen

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