Isau, Ralf
Brücke zwischen den beiden Welten.«
Albega schmunzelte. »Sagte ich das nicht bereits? Um der Wahrheit die Ehre zu geben, hat bisher niemand das Wesen der Bibliothek vollständig ergründen können, selbst der ehrenwerte Thaddäus nicht. Vielleicht muss er dieses Rätsel jetzt lösen, um uns alle zu retten. Zumindest wollte er außerdem das Geheimnis der Leere in den zurückbleibenden Lücken klären – worum genau handelt es sich dabei? Kennt man ihre Natur, kann man sie vielleicht bekämpfen, hat er gesagt. Wir haben versucht, die Lücken mit allem Möglichen, sogar mit anderen Büchern, zu stopfen, aber bisher hat nichts geholfen. In der Leere verschwindet alles.«
»Das klingt ernst. Dürfte ich mir ein Bild von den Ausmaßen der Bibliothek machen?«
»Gerne. Das gehört ja wohl auch zu deinen Pflichten als kommissarischer Meisterbibliothekar. Würdest du mich tragen? Dann geht es ein bisschen schneller.«
Am liebsten hätte Karl jede Inhaberschaft an besagtem Stellvertreteramt rundweg abgelehnt, aber was nützte es, mit einem Wicht zu streiten, der gar nicht existierte? Er streckte Albega den Aktendeckel hin – seltsamerweise blieb er sogar im Traum noch an die Dokumente gefesselt.
Der Bücherdrill sprang geschickt von Goethes Doctor Me-chanicae auf die Mappe, setzte sich hin, umfasste mit einer Hand das rote Gummiband und rief wie Hannibal zu seinem Elefanten: »Hoho! Vorwärts mein Guter, lass uns ein neues Reich im Sturm erobern.«
Karl verkniff sich eine Erwiderung und wollte sich gerade in Bewegung setzen, als er durchs Loch seiner rechten Schuhsohle einen schmerzhaften Druck verspürte. »Au! Moment noch, Albega, ich muss mir einen Stein eingetreten haben.« Er bückte sich, legte den Aktendeckel samt Bücherdrill auf die Erde und untersuchte seinen Schuh. Überrascht förderte er aus dem Sohlenloch eine schwarze Perle zutage. »Au!« Erschrocken fuhr er hoch und ließ sie dabei fallen.
»Hat sie dich gestochen?«, fragte Albega.
»Ach was! Sie ist eiskalt« Karl musterte die Perle argwöhnisch, als könnte sie ihn jeden Moment anspringen. Rasch verwandelte sich sein Misstrauen in Neugier. Ein Wunsch begann in ihm zu keimen.
Er wollte diese Perle besitzen.
Abermals beugte er sich hinab und hob sie auf, doch diesmal breitete er zunächst sein frisch gewaschenes weißes Taschentuch darüber. Selbst durch den Stoff konnte er die Kälte spüren, die ihm nun jedoch nicht mehr so stechend erschien, sondern eher angenehm kühl. Er hielt die Perle vor ein dickes, weißblau strahlendes Buch. Sie war, soweit er das beurteilen konnte, vollkommen rund und in etwa so groß wie eine Kichererbse. Ihre dunkle, seidige Oberfläche irisierte im Licht des Buches auf eine zauberhafte Weise. Karl hatte sich nie sonderlich für Schmuck interessiert, deshalb wunderte er sich etwas über die Begehrlichkeit, die ihr Anblick in ihm weckte. Ob Albega das Gleiche empfand? Vielleicht wollte er ihm das Kleinod wegnehmen ...
Karl schüttelte benommen den Kopf. Er musste all seinen Willen zusammennehmen, um die Hand nicht gierig um die Perle zu schließen. Nur mit Mühe konnte er seiner Stimme einen gleichmütigen Klang geben, während er sich dazu zwang, dem Bücherdrill die Perle zu zeigen. »Sie ist durchbohrt. Als hätte der Dieb eine Kette getragen, die ihm hier zerrissen ist. Oder gehört dieses eisige Schmuckstück dir?«
»Natürlich nicht. Oder trägst du Melonen um den Hals? Und wie kommst du überhaupt darauf, dass die Bücher gestohlen wurden?«
Als Kettenanhänger war die Perle tatsächlich viel zu groß für den winzigen Albega. Sein offensichtliches Desinteresse ließ Karl erleichtert aufatmen, die Frage indes brachte ihn zum Grübeln. Schließlich zuckte er die Schultern. »Ist mir so eingefallen. Hat wohl keinen besonderen Grund.« Hastig faltete er das Tuch zusammen, bis mehrere Lagen Stoff die Perle umhüllten, und steckte es in die rechte Hosentasche. Nun erst, da er seinen Schatz sicher wähnte, entspannte er sich. Der Anflug von Habgier kam ihm jetzt sogar wie ein schlechter Traum vor, und ebenso leichtfertig ging er darüber hinweg. Er hob den Aktendeckel samt Bücherdrill wieder vom Boden auf und machte sich endlich an die Erkundung der Bibliothek.
Von Albega gelotst, durchquerte Karl mehrere unterschiedlich große Räume, bis er durch eine Regalwand eine Kaskade gleißender Fächer aus Tageslicht sah. Die Sonne musste direkt vor dem Sprossenfenster stehen, das er schon zweimal vergeblich hatte
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