Isau, Ralf
Motive herauszufinden. Ich empfehle als erste Anlaufstelle das »Haus der Erwartungen«. Die weiteren Nachforschungen richten sich dann nach den dort gewonnenen Erkenntnissen. Man kann es aber auch ganz anders machen. Viel Glück und herzliche Grüße Thaddäus Tillmann Trutz
PS: Sollten Sie auf den Gedanken kommen, das hier sei alles nur ein Traum – vergessen Sie es! Phantásien gibt es wirklich und Sie sind mittendrin.
»Wie wär's, wenn du mal wieder Atem holst und danach den Mund zuklappst?«
Albegas Stimme drang wie durch eine Tür in Karls Bewusstsein. Er kam sich vor, als wäre eine Planierraupe über ihn hinweggewalzt. Woher nahm Herr Trutz nur dieses grenzenlose Vertrauen in die Fähigkeiten seines eben erst eingestellten, blutjungen, unerfahrenen, ängstlichen, unentschlossenen ...?
»He, Karl! Hörst du mich?«
Er blinzelte. »Was?«
»Du siehst aus, als hätten dich die Sphinxe vom Südlichen Orakel angeblickt.«
»Wer?«
»Was? Wer?«, äffte Albega den benommenen jungen Mann nach. »Jeder, den sie ansehen, erstarrt auf der Stelle ... Aber das ist eine andere Geschichte, die ich dir ein andermal erzähle.« Der Bücherdrill deutete auf den Brief. »Jetzt ist dir hoffentlich klar, woher ich deinen Namen kannte und warum ich dich Retter nannte.«
»Gar nichts ist mir klar. Wer ist diese Kindliche Kaiserin?«
»Nicht mal das hat er dir erklärt?«, stöhnte Albega.
Karl sank verzagt auf den Stuhl, rammte einen Ellenbogen auf den Schreibtisch und ließ seine Stirn in die offene Hand fallen. Mit glasigem Blick starrte er auf den Brief.
»Hab's nicht so gemeint«, sagte Albega rasch. »Also, die Kindliche Kaiserin ist die Herrscherin von Phantásien. Würdest du sie sehen, hieltest du sie vermutlich für ein Mädchen von neun oder zehn Jahren. Sie ist uralt und ewig jung. Ihr Haar ist weiß wie frisch gefallener Schnee. Ich kenne niemanden, der mir sagen konnte, wer sie ist. Ihr Wesen gehört zu den großen Geheimnissen Phantásiens.«
»Ist sie eine gute Königin? Oder herrscht sie mit Hilfe von Spitzeln, Willkür und Gewalt?«
Albega lächelte traurig. »Deine Fragen verraten so viel über die Welt, aus der du kommst. Nein, die Kindliche Kaiserin ist nichts von alledem. Sogar der Königstitel will nicht zu ihr passen. Sie richtet niemanden, weder die Bösen noch die Guten. Deshalb kann auch nichts Hässliches sie schrecken und nichts Schönes ihr Urteil beugen. Sie ist allen alles und schließt niemanden aus, weil sie unmöglich mit sich selbst entzweit sein kann. Das ist wohl auch der Grund ihrer Krankheit.«
»Wenn ich mich nicht irre, hattest du davon bisher nichts erwähnt.«
»Ich konnte ja nicht ahnen, wie wenig dir der ehrenwerte Thaddäus gesagt hat«
»Schon gut. Bitte erkläre mir das mit der Krankheit.«
Albega setzte wieder seine Trauermiene auf. »Es ist ein großes Unglück, umso mehr, als der Meisterbibliothekar nicht ausschließen will, dass es mit den ›Auflösungserscheinungen‹ hier bei uns zusammenhängt. Es heißt nämlich, die Kindliche Kaiserin habe geseufzt, als in der Phantásischen Bibliothek das erste Buch verschwand.«
»Jeder seufzt hin und wieder«, gab Karl aus eigener Erfahrung zu bedenken.
»Aber nicht so, dass man es in der ganzen Welt vernimmt. Seit diesem Tag stehen die Borkentrolle an den Ausgängen der Bibliothek und halten Wache. Kein Unberechtigter kann sie betreten, und niemand darf ein Buch mit hinausnehmen.
Trotzdem sind bis heute immer mehr Werke verschwunden,
und gleichzeitig nahmen die Krankheiten zu.«
»Du sprichst von der Kindlichen Kaiserin?«
»Nicht allein von ihr. In ganz Phantásien wird es immer kälter. Hier spüren wir noch wenig davon, aber in der schwimmenden Wüste Karzim soll es sogar geschneit haben. Außerdem wird von einer seltsamen Seuche berichtet, die mit der Kälte kam. Wer davon befallen wird, dessen Augen und Ohren verkrusten. Viele Bewohner Phantásiens sehen und hören dadurch schlecht, immer häufiger hört man auch von Erblindeten und Taubgewordenen. Außerdem werden die Gelenke der Erkrankten steif, wodurch ihre Beweglichkeit leidet. Mancher kann nicht mehr selbst für sein Brot sorgen. Am schlimmsten aber sind die Missbildungen bei den Neugeborenen. Pflanzen, Tiere und vernunftbegabte Geschöpfe sind gleichermaßen davon betroffen. Selbst unter den Zentauren, die weithin für ihre Klugheit bekannt sind, sollen neuerdings schwachsinnige Kinder zur Welt gekommen sein, einige sogar mit zwei Köpfen.«
»So
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