Isau, Ralf
kein Traumwesen. Zugegeben, in manchen Dingen könnte man Phantásien mit einem Traum verwechseln, aber ich nehme an, hier und da passiert dir das mit deiner Welt genauso.«
»Na ja ...« Karl beschloss, den Kleinen nicht weiter zu reizen. »Das abhanden gekommene Buch – weißt du, wie es heißt?«
»Und ob! Zu den vorrangigen Aufgaben von uns Bücherdrillen gehört die Katalogisierung sämtlicher Werke in der Phantásischen Bibliothek. Der verschwundene Titel lautet Die lebendigen Kräfte der Gedanken und ihre wahre Schätzung. Sein geistiger Vater ist Immanuel Kant. Ein furchtbarer Verlust!« Albega schluchzte.
Karl hatte großen Respekt vor dem Philosophen, und er begriff allmählich, welche Schätze hier verloren gingen. Das Herz verkrampfte sich ihm in der Brust. Leise fragte er: »Wie groß ist inzwischen der Bücherschwund?«
Albega schüttelte traurig den Kopf. »Zu groß. Jedes fehlende Werk hinterlässt eine Lücke, in jeder nur denkbaren Weise. Die Phantásische Bibliothek existiert seit Anbeginn der Zeit. Der Legende nach hat ein gestrandeter Seefahrer ein großes aufgebrochenes Ei aus Stein gefunden, das hohl und an den Innenwänden voll funkelnder Kristalle war. Wie in einem Mutterschoß lag darin eine Steintafel, gewissermaßen das erste Buch der heute so riesigen Sammlung. Es enthielt ein Gedicht mit dem Namen Die verlorene Unschuld. Man kann es übrigens tief unter uns immer noch sehen. Aus dieser ›Wissenden Druse‹ – so nannte der Schiffbrüchige seinen Fund – wuchs die heutige Bibliothek. Und mit ihr breitete sich auch Phantásien immer weiter aus, bis die anfangs kleine Insel im Meer der Träume zu einer grenzenlosen Welt geworden war. Eine Prophezeiung sagt, Die verlorene Unschuld werde irgendwann vom Angesicht Phantásiens verschwinden, und dann müsse es neu erschaffen werden. Ich mag mir lieber nicht vorstellen, was passieren würde, wenn die Leere auch in die Wissende Druse Einzug hält. Aber selbst wenn das nicht geschieht, sieht die Zukunft unserer Bibliothek düster aus. Sie wächst zwar noch – vor allem die ›Abteilung für verbrannte Bücher‹ hat in letzter Zeit erstaunlich viele Neuzugänge –, aber gleichzeitig wird sie von dem Bücherschwund ausgehöhlt wie ein Haus, an dem Termiten nagen. Noch kann die Leere sich nicht ungehemmt ausbreiten, weil die verbleibenden Bücher sie sozusagen in Schach halten, aber der Zusammenbruch der Bibliothek ist, fürchte ich, nur eine Frage der Zeit.«
»So ernst ist es?«
»Leider ja. In mancher Hinsicht ist diese Sammlung hier wie eine Hängebrücke: Man braucht nur an einem Pfeiler an der richtigen Stelle ein paar Steine zu entfernen und das ganze Bauwerk stürzt zusammen.«
»Das hört sich gerade so an, als würde jemand mit Verstand und Planung vorgehen.«
»Der ehrenwerte Thaddäus hatte auch so einen Verdacht. Deshalb ist er vor einem Jahr ausgezogen, um ...«
»Halt mal! Sagtest du vor einem Jahr?«
Albega nickte eifrig. »Auf den Tag genau.«
»Das kann gar nicht sein. Ich habe ihn gestern noch gesehen.«
»Ja, in deiner Welt. Der ehrenwerte Thaddäus hat mir erklärt, dass ihr die Zeit mit Maschinen messt, die sich stur im gleichen Takt bewegen, und alle müssen sich danach richten – eine ziemlich absonderliche Vorstellung, wenn du mich fragst. In Phantásien ist die Zeit wie ein Fluss, der mal langsamer und mal schneller fließt, und seine Geschöpfe sind wie kleine Papierschiffchen, die auf diesem Strom treiben. Jedes Menschenkind, das zu uns kommt, trägt dagegen seine eigene Zeit in sich; jedenfalls hat mir der ehrenwerte Thaddäus das so erklärt.«
»Ach, hat er das«, sagte Karl tonlos. Er fasste sich an die Stirn. Das wurde ja immer verrückter! Seiner Ansicht nach hatte sich der Bücherdrill soeben verraten. Die Phantásische Bibliothek mit allem Drum und Dran konnte nur ein Traum sein. Diese waren von Natur aus mit einer launenhaften Zeit ausgestattet. Im Schlaf konnte man leicht ein ganzes Jahr auf Reisen gehen und am nächsten Tag erfrischt und munter erwachen. Sich scheinbar auf Albegas Behauptung einlassend, fragte er: »Was genau bezweckt der Meisterbibliothekar mit seiner Reise?«
»Er will die größten Experten Phantásiens um Rat ersuchen. Angenommen, die Bücher verschwinden nicht zufällig – warum sollte jemand die Phantásische Bibliothek zerstören wollen? Es heißt, sie sei der Pfeiler, auf dem sowohl Phantásien als auch die Äußere Welt ruhen ...«
»Dann wäre sie eher eine
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