Isau, Ralf
richtigzustellen.«
Und das tat er dann auch. Karl erzählte alles von seinem Zaudern vor dem Antiquariat bis zur Begegnung mit Alphabetagamma. Die Worte sprudelten nur so aus ihm hervor, als wolle er sich damit von der Verantwortung reinwaschen, die in diesem beängstigenden Wort steckte: Retter. »Und deshalb muss hier ein bedauerlicher Irrtum vorliegen«, schloss er seinen Bericht. »Erstens träume ich unsere Begegnung in der Phantásischen Bibliothek – was immer das sein soll – nur, und zweitens bin ich alles andere als ein ... Warum eigentlich Retter?«
Die abgrundtiefe Traurigkeit in Albegas kleinem Gesicht war einem Ausdruck höchster Besorgnis gewichen. »Ich muss dich wohl über einige Dinge aufklären«, sagte er und erhob sich ächzend von dem Buch, auf dem er bis eben gesessen hatte. Er deutete unter sich. »Weißt du, worauf ich hier stehe?«
»Auf einem Buch«, antwortete Karl.
»Eine große Leuchte scheinst du ja nicht zu sein, Karl.«
»Einem Regal?«
»Den Titel sollst du dir ansehen!«, platzte Albega heraus.
Karl las gehorsam die schwarzen Lettern auf dem rot schimmernden Buchrücken.
JOHANN WOLFGANG VON GOETHE
Doctor Mechanicae
»Merkwürdig«, murmelte er. »Ich glaubte bis jetzt alle Werke des großen Dichterfürsten zu kennen. Aber dieses da ...«
«... kannst du noch gar nicht gelesen haben«, fiel ihm Albega ins Wort, »denn Goethe hat es nie geschrieben.«
»Wie soll es dann hierher ...?«
»Wir befinden uns in der ›Abteilung für ungeschriebene Bücher‹. Alle Werke, die du hier siehst, sind von ihren Verfassern nie zu Papier gebracht worden. Die Ideen dazu, die hatten sie schon im Kopf, und je umfangreicher die Werke sind, desto weiter waren sie gediehen, aber irgendetwas kam den Dichtern und Denkern, Erzählern und Erfindern dazwischen. Damit es nicht verloren geht, bewahren wir es hier auf.«
Karl schwirrte der Kopf. »Bedeutet das, man kann die ungeschriebenen Bücher lesen?«
»Klar doch!« Albega nahm den Hut ab. Jetzt erst wurde erkennbar, wie passgenau seine Kopfbedeckung war. Der Bücherdrill hatte einen kegelförmigen, pelzig schwarzen Schopf, der wie bei einer Schraube gedreht war. Damit bohrte er sich mit angelegten Armen und atemberaubender Geschwindigkeit oben in das Buch und kam am Rücken, dicht über dem Regalbrett, wieder heraus. Danach setzte er erneut seine Mütze auf und sagte: »Jetzt erinnere ich mich wieder. Ein wunderbarer Roman! Es geht darin um einen jungen Mann, der mit störrischen Maschinen reden kann und sie so wieder zum Laufen bringt.«
Karl hörte gar nicht richtig zu. Er wunderte sich noch, dass an der Stelle, wo Albega seine Lesetour beendet hatte, kein Loch zu sehen war. »Was hast du da eben getan?«
»Quer gelesen. Für ein gründliches Studium braucht unsereiner etwas länger.«
»Natürlich. Kannst du richtige Bücher genauso lesen?«
»In Phantásien sind das hier ›richtige Bücher‹.«
Karl schüttelte den Kopf. Mit den Augen überflog er einige Regalmeter, bevor er behauptete: »Bücher strahlen nicht.«
»Unsere schon. Zumindest für jene, die sich ihrem Inhalt öffnen.«
Karl erinnerte sich noch sehr gut, wie es in den Regalen von Herrn Trutzens Kabinett plötzlich in allen Farben zu leuchten begonnen hatte. Er griff sich an die Stirn und schüttelte den Kopf. »Das ... das verstehe ich nicht.«
»Ist doch ganz einfach. Die Bücher in der Phantásischen Bibliothek bestehen aus Phantasie in seiner reinsten Form: aus Licht.«
Karl starrte den Bücherdrill verständnislos an. »Aber ich habe schon welche in den Händen gehalten und darin gelesen und ...«
»Dazu sind Bücher ja wohl da«, warf Albega ein.
»... und hineingeschnuppert«, fuhr Karl unbeirrt fort. »Licht ist völlig geruchlos. Also wer bitte schön hat sie parfümiert?« »Was?«
»Sie riechen nach Oleander, Hibiskus, Heu, Knoblauch, Petersilie und sogar nach Kuhfladen. Wer lässt sich so etwas einfallen?«
»Na, du?«, erwiderte Albega, als wäre Karls Frage mehr als überflüssig.
»Ich?«
»Für alle Menschenkinder, die den Büchern ihren Sinn und ihr Herz aufschließen, leuchten sie in den herrlichsten Farben. Aber trotzdem nimmt sie jeder anders wahr. Bei dir riechen sie.«
»Und bei Herrn Trutz?«
»Der ehrenwerte Thaddäus hat die Bücher an ihrem Klang erkannt.«
»Ich träume!«, keuchte Karl.
Albega stemmte seine Fäustlein in die Seiten. »Um das ein für alle Mal klarzustellen: Du schläfst nicht, und ich bin auch
Weitere Kostenlose Bücher