Isch geh Schulhof: Erfahrung
eine Shweshter.«
Oh Mann. Nun wundert mich bei Ali und Talibe endgültig gar nichts mehr. Ich streichele ihm traurig durch seine verwuschelten Haare und gratuliere ihm zu seiner Schwester.
»Dann ish habe drei Shweshtern und vier Brüder. Aber meine alteste Shweshter, shie hat auch shon tshwei Kinder.«
Ich schüttele den Kopf. Bei allem Respekt für das Recht auf reproduktive Selbstbestimmung frage ich mich immer wieder: Wie sollen zwei Menschen, die der deutschen Sprache nicht mächtig und arbeitslos sind, in einem Land, dessen Kultur aus ihrer Perspektive das reinste Freudenhaus darstellen muss, acht Kinder in einer Zweizimmerwohnung erziehen? Wie zur Hölle, die es nicht gibt, soll das funktionieren?
Als sich die Stunde dem Ende nähert, verteile ich die Hausaufgaben und entlasse die Schüler in die Pause. Nach dem Feierabend – der bei Lehrern korrekterweise Unterrichtsschluss heißt – suche ich Chrissi auf, die mir die Telefonnummern der Elternvertreter gibt. Also vereinbare ich mit der Mutter von Clara und dem Vater von A ş kın einen Termin, um den Fortgang des Deutschunterrichts zu besprechen.
Als wir zwei Tage später gemeinsam im Klassenraum auf winzigen Stühlen an winzigen Tischen sitzen, schütten mir die beiden ihr Elternherz aus. Seit der Schwangerschaft der bisherigen Deutschlehrerin sei der Unterricht nur sporadisch vertreten worden, sodass jegliche Kontinuität und damit auch jeder Lernfortschritt verloren gegangen seien.
»Kein Wunder«, stimme ich zu und bespreche mit ihnen, wie wir den Deutschunterricht nun konstruktiv fortsetzen, um in den wenigen verbleibenden Schulwochen zu retten, was noch zu retten ist. Schließlich vereinbaren wir noch einen Termin für das Sommerfest der Klasse, dessen Einladung A ş kıns Papa schreiben und mir schicken wird. Dass ich eventuell bald Klassenlehrer einiger Kids aus dieser JÜL -Gruppe sein werde, behalte ich dann aber doch besser noch für mich.
30
Mach dir ’n Bier auf
A m folgenden Tag begegne ich unserem Konrektor Tom, der mir freudestrahlend die Hand schüttelt. An seinem Blick meine ich zu erkennen, dass er gute Nachrichten für mich hat, muss mich aber von ihm noch ein bisschen auf die Folter spannen lassen. Erst als ich ihn ausreichend gelöchert habe, rückt er mit den Neuigkeiten raus: Mein nächster Vertrag ist von der Senatsverwaltung genehmigt worden! Zwar nur mündlich, aber dennoch fällt mir ein Stein vom Herzen.
Ich verbringe die nächsten Unterrichtsstunden in dem entspannten Wissen, ein weiteres Jahr meine Miete zahlen zu können – als junger Vater und momentaner Alleinverdiener gar nicht mal so schlecht. Dann eile ich ins Büro der Schulleiterin, um die Details zu erfahren.
»Ja, Herr Möller – wie gesagt: Wenn ich jemanden hierbehalten will, schaff ich es auch. Glückwunsch!«
Sie schüttelt mir die Hand und überreicht mir feierlich eine Klassenliste, auf der gerade mal siebzehn Namen stehen. Fünfzehn der Kinder kenne ich bereits persönlich. Vatergefühle erwachen in mir.
»Die Schüler wissen übrigens noch nichts«, ergänzt Frau Juhnke, »und die Eltern auch nicht. Am besten nutzen Sie das Sommerfest der Klasse für die Verkündung der guten Nachricht!«
Gute Idee.
Die nächsten Stunden fliegen an mir vorbei. In dem Wissen um den genehmigten Vertrag fällt mir der Unterricht gleich wieder viel leichter. Ob ich den Job nun tatsächlich ein Leben lang ausüben möchte, ist mir zwar immer noch nicht klar, aber die Perspektive auf mindestens ein weiteres Jahr beruflicher Sicherheit tut mir verdammt gut.
Das Sommerfest von Chrissis Klasse, das ich ein paar Tage später mit Sarah und Klara aufsuche, findet in der Gartenarbeitsschule statt. Nach einem langen Fußweg durch die kleinbürgerliche Idylle gepflegter Schrebergärten landen wir also in dieser Einrichtung des Berliner Gartenbauamts, die mit einem kleinen Fußballplatz, einer Spielburg, Kaninchengehegen und einem Hühnerstall aufwartet. Das Wetter spielt heute mit, und weil bei solchen Events eher die Eltern auftauchen, die an der pädagogischen Entwicklung ihres Kindes interessiert sind – also wenige –, erwartet Sarah, Klara und mich ein beschauliches Fleckchen Erde mit einer Handvoll spielender Kinder, ihren Eltern und einem leckeren Büffet. Die Szene ist so bilderbuchartig, dass sie auch aus dem Werbekatalog eines familienorientierten Reiseunternehmens oder einer Weltuntergangssekte stammen könnte.
»Außerschulischer Lernort heißt so etwas«,
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