Isch geh Schulhof: Erfahrung
an seiner Cousine begehen sollte. Die Polizei konnte die Tat zwar noch früh genug verhindern, aber der Hass auf diese junge Frau, die sich gegen eine Zwangsheirat gewehrt hatte, beschäftigt Orkan offensichtlich noch heute. Immer wieder betont er, dass solche Vorfälle nicht alltäglich seien, aber die Dunkelziffer der Fälle, in denen die Selbstbestimmungsrechte von Frauen gebrochen werden, schätzt er sehr hoch ein.
Auf der gemeinsamen Suche nach Möglichkeiten der Prävention erinnern wir uns an den Fall von Hatun Sürücü, die von ihrem Bruder durch mehrere Kopfschüsse getötet wurde. Der Berliner Senat hatte damals außergewöhnlich konsequent reagiert und das Pflichtfach Ethik an allen Berliner Oberschulen eingeführt, in welchem Schüler aller Weltanschauungen ein gemeinsames Werteverständnis vermittelt werden soll, um solchen Taten langfristig entgegenzuwirken. Auch erinnern wir uns an die Initiative Pro Reli, die etwas später versuchte, die Einführung dieses Pflichtfaches per Volksentscheid wieder rückgängig zu machen. Damals scheiterte die Gottes-Lobby jedoch an dem Wunsch der Berliner nach ethischen Grundsätzen, die ohne Heilige Schriften, Dogmen, Propheten oder ähnlichen Zinnober auskommen. Orkan und ich werden uns darüber einig, dass es für Kinder und Jugendliche verschiedener Kulturen extrem wichtig ist, miteinander statt übereinander zu sprechen, und wünschen uns einen solchen Unterricht auch für die Grundschule.
Dann geht er auf die kulturellen Hintergründe ein, die nach seiner Einschätzung hinter Ehrenmorden und ähnlichen Verbrechen stecken. Er erklärt mir, dass in traditionellen Familien bereits die Kleinsten die Regeln verinnerlichten, die auch ihren Eltern und Großeltern schon beigebracht wurden. Dazu gehöre vor allem, dass die Gemeinschaft – die Umma – immer wichtiger sei als das Individuum. Frauen und Mädchen hätten dort praktisch keine Rechte, und das letzte Wort in allen Lebensbereichen habe stets der Imam.
»Er ist der Einzige, der in der Lage ist, die Suren des Koran richtig zu interpretieren«, erklärt er mir. »Dort ist festgelegt, was helal und was haram ist.«
Das Wort helal kenne ich zwar von den Gummibärchenpackungen aus dem türkischen Supermarkt, aber die genaue Bedeutung der Begriffe ist mir nicht klar.
Orkan erklärt: »Helal bedeutet erlaubt, haram bedeutet verboten.«
Als Beispiele für Verbote nennt er den Konsum von Schweinefleisch und Alkohol und fügt hinzu, dass andere Dinge, wie zum Beispiel Geburtstagsfeiern oder das Ablegen des Kopftuchs, im islamischen Rechtssystem heiß diskutiert würden.
»Kein Muslim trinkt Alkohol?«, frage ich ihn skeptisch.
»Quatsch, Alter!« Er lacht. »Es gibt natürlich einige Hardcore-Muslime, die sich daran halten, aber ich hab viele Männer gesehen, die das Koransymbol an ihrer Halskette unter dem T-Shirt verstecken, wenn sie Bier trinken oder einen Joint rauchen.«
Erwachsenen Menschen das Recht auf Rausch zu nehmen geht ja meist nach hinten los, merke ich an, will dann aber von ihm wissen, ob das Tragen des Kopftuchs für Muslimas tatsächlich Vorschrift sei. Er drückt sich etwas um die Antwort und findet dann eine elegante Lösung: »Sagen wir mal so: Die Gelehrten sind sich nicht ganz einig.«
Wie in der Bibel auch, meint er, sei vieles Auslegungssache, und obwohl auch er sich als Muslim verstehe, halte er sich nicht immer an alle Regeln.
»Das wäre auch echt übel«, stimme ich ihm kopfschüttelnd zu und frage ihn dann nach seiner Meinung zu der Aussage eines Muslims, der mir einmal klarmachen wollte, dass Frauen in muslimischen Familien meist das Sagen hätten.
Er zieht eine Augenbraue hoch und schüttelt dann entschieden den Kopf. An der Legende der starken muslimischen Frau, die dem Macho zu Hause die Leviten liest, sei nun wirklich gar nichts dran. Aber weil Orkan so sehr um eine ausgeglichene Darstellung bemüht ist, konfrontiert er mich mit der Tatsache, dass es auch unter Deutschen noch immer keine wirkliche Gleichbehandlung gebe. Dann zitiert er einen Satz, der mir auf unschöne Weise bekannt vorkommt.
»Die größte Ehre, die das Weib hat«, sagt er mit tiefer Stimme, »ist, dass Männer durch sie geboren werden.«
Als mir auch nach einigem Überlegen der Urheber dieser Frechheit nicht einfällt, nennt er den Namen eines Mannes, nach dem hierzulande Straßen benannt werden: Martin Luther.
Ich stutze. Das hat Martin Luther gesagt? Nicht gerade aufgeklärt, der feine Herr
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