Isegrim
Garaus zu machen.
Das alles wird passieren, früher oder später. Aber ich will nicht, dass Olek geht. Wenn er sein Refugium verlässt, dann wird es für immer sein. Panik erfasst mich bei dem Gedanken, ihn zu verlieren. Meine Kehle schnürt sich zu. Wir können ja nicht einmal in Kontakt bleiben. Keine E-Mails, keine Nachricht auf Facebook, höchstens mal ein Anruf, und das auch nur, wenn Olek zuvor jemandem Geld gestohlen hat.
Mein bisheriges Leben kommt mir auf einmal ganz easy vor, ohne nennenswerte Probleme. Doch damit scheint nun Schluss zu sein. Geh, Olek, bevor es zu spät ist, denke ich, aber ich bringe keinen Ton hervor.
Gegen jede Vernunft habe ich meinen Gefühlen für diesen Jungen nachgegeben. Wenn wir zusammen sind, erlebe ich jeden Moment als ein bunt schillerndes Gewebe aus kostbaren Fäden. Aus gewagten Träumen und Hoffnungen. Aus ungeahntem Begehren und einer Fülle von Zärtlichkeiten. Aus Liebe und Verlust. Vergangenheit und Zukunft, dunklem Schmerz und irrer Freude, aus Werden und Vergehen. Alles ist im Geflecht der Zeit miteinander verwoben. Ich habe keine Ahnung, wohin die Sache steuert, aber ich will mir das hier nicht kaputt machen lassen, von nichts und niemandem.
Jeder Tag mit Olek zählt. Es ist, als würde ich mir einen Vorrat anlegen, einen Vorrat von diesem kostbaren Gewebe, damit ich mich später darin einhüllen kann, wenn er nicht mehr da ist.
»Also gut«, sage ich endlich, »ich werde niemandem etwas erzählen. Vielleicht hat die Wölfin es ja nur getan, weil die blöden Heidschnucken angepflockt waren.«
Wann habe ich eigentlich angefangen, mich selbst zu belügen? Soeben oder schon vor langer Zeit?
Ich schmiege mich an Oleks Brust und er nimmt mich in seine Arme. Dann küssen wir uns, tief und ein bisschen verloren.
Ich bin eine Viertelstunde zu spät zum Mittagessen, Ma und Pa haben bereits angefangen. Meiner Mutter geht es nicht gut, das sehe ich sofort. Dunkle Schatten liegen unter ihren Augen, ihr Gesicht sieht bleich und spitz aus. Ein Schaf mit aufgerissener Kehle, nur zweihundert Meter von ihrem Zuhause entfernt, das ist einfach zu viel für sie.
Ma hat in den letzten Wochen viel im Garten gearbeitet, hat ihre Beete bestellt und sich um ihre geliebten Rosen gekümmert. Doch solange ein beiÃwütiger Hund durchs Dorf streift, wird sie keine Ruhe mehr haben.
»Was hat Tobias gesagt?« Ich tue mir auf, Spaghetti mit TomatensoÃe und Schaf-Hackfleisch.
»Er behauptet, Luzifer war es nicht. Der Hund wäre jede Nacht im Zwinger, auch die vergangene.«
»Glaubst du ihm?«
Pa hebt die Schultern. »Ich weià nicht. Seine Papiere sind in Ordnung und er schwört, dass Luzifer es nicht gewesen sein kann.«
»Und was nun?«
»Ich muss noch mal mit Neumann sprechen. Anspruch auf Entschädigung hat er ja nicht, aber er will natürlich wissen, welcher Hund aus dem Dorf für den Tod seiner Schafe verantwortlich ist. Die anderen Leute auch. Aber nur Hagen kann als Geschädigter Anzeige erstatten und die Polizei einschalten.«
»Die Polizei?« Ich zucke zusammen, die Nudeln rutschen mir von der Gabel.
»Ja. Dann muss ein Forensiker das tote Schaf untersuchen, Speichelproben von Luzifer nehmen.«
»Das ist ja verrückt«, sagt Ma schleppend. »Und wenn sich herausstellt, dass es Zackes Rottweiler tatsächlich nicht gewesen ist?«
Das ist die Frage, die ich nicht zu äuÃern gewagt habe.
Pa zuckt mit den Achseln. »Dann müssen alle groÃen Hunde im Dorf untersucht werden. Möglicherweise ist ja auch ein wildernder Hund im Wald unterwegs. Ist dir vielleicht etwas aufgefallen, Jola?«
»Nö.« Eine Zwei-Buchstaben-Lüge.
Pa seufzt. »Ich war schon lange nicht mehr in Ruhe auf der Pirsch, die ganzen Versammlungen, die Jahrespläne für den Holzeinschlag und die ständigen Klagen der Bauern wegen der Wildschäden â ich hatte einfach zu viel um die Ohren. Gleich morgen werde ich mich mal gründlich im Revier umschauen.«
Erschrocken verschlucke ich mich an meinem Bissen und muss husten. Dass Pa sich gründlich in seinem Revier umschaut, kann ich jetzt überhaupt nicht gebrauchen.
In meinem Zimmer fahre ich den Laptop hoch und googele alles über Herdenschutzhunde und wolfssichere Zäune. Rundum dichte Elektrozäune schrecken Wölfe ab. Alles, was flattert, macht ihnen Angst. Wölfe springen
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