Isegrim
ihn nicht fragen, also frage ich, was er sich wünscht, in der Hoffnung, dass ich in seiner Zukunft vorkomme.
»Für einen wie mich gehen Wünsche selten in Erfüllung«, antwortet er leise. »Sie tun nur weh.« Der Schmerz in Oleks Stimme treibt seine Worte tief unter meine Haut. »Ich versuche, im Augenblick zu leben, Jola, wie die Tiere. Nichts hoffen und nichts wünschen. Der Mensch ist einzige Tier, das wünscht.« Die schwüle Hitze, das Summen der Insekten und die Rufe eines Baumfalken mischen sich in seine Worte. »Ich will nichts wünschen, ich will mich nicht mehr erinnern.«
Schnell hat sich der Himmel zugezogen und nun türmen sich dunkle Wolken am Himmel. Auf dem Heimweg erwischt mich das Gewitter, ich werde nass bis auf die Haut.
In den nächsten Tagen bleibt das Wetter warm und sonnig. Jeden Morgen bin ich vor Sonnenaufgang im Verbotenen Land und verbringe die Zeit bis zum Mittagessen mit Olek. An den Nachmittagen schlüpfe ich in mein Die-alte-Jola-Ich, fahre mit den anderen zum Badesee, um die Fassade der Normalität aufrechtzuerhalten, hinter der ich meine Geheimnisse bewahre â und um mein Versprechen gegenüber Kai einzuhalten, dass ich ihn mit seiner wilden Nichte nicht alleinlasse.
Elli ist gewachsen, seit ich sie das letzte Mal gesehen habe, und Kai hat nicht übertrieben: Seine Nichte ist ein wahrer Satansbraten. Mager und flink wie ein Eichhörnchen, allerdings eins ohne Schneidezähne. Blonde Ringellöckchen, Sommersprossen, Stupsnase und ein loses Mundwerk, das sich gewaschen hat. Entweder rennt sie oder springt wie ein Jojo auf und ab â normal laufen scheint bei ihr nicht einprogrammiert zu sein. Und sie schleppt immer ein hässliches behaartes Stofftier namens Sammy mit sich herum, von dem sie sich niemals trennt.
Wir haben ein Plätzchen im Halbschatten einiger Jungbirken und die Nachmittagssonne funkelt auf dem dunklen Wasser des Sees. Sammy sitzt am Uferrand, gerade so weit von der Wasserlinie entfernt, dass seine grauen FusselfüÃe nicht nass werden. Kai steht im Wasser und hält Elli in ihrem Hello-Kitty-Badeanzug auf seinen Unterarmen. Sie hat rosafarbene Schwimmflügel an den Armen, Kai soll ihr das Schwimmen beibringen.
»Okay«, ruft er, »so ist es gut. Die Beine bewegen wie ein Frosch und mit den Händen das Wasser zerteilen und wegschieben. Pass auf, ich zeige es dir noch mal.« Er lässt sie von seinen Armen gleiten und wartet, bis sie sicher steht. Dann stellt er sich hinter sie, fasst nach ihren Händen und zeigt ihr die Schwimmbewegungen.
»SüÃ, oder nicht?« Saskia stupst mich an.
»Wer? Kai oder Elli?«
Sie kichert. »Na, wer schon. Sieh ihn dir doch nur an, diese Wahnsinnsmuskeln.«
Saskia hat recht. Kais Figur ist in den letzten Wochen männlicher geworden, er hat Muskeln bekommen. Ich weiÃ, dass er heimlich Gewichte stemmt in seinem Zimmer.
»Als kleiner Kerl war er ein Dickerchen mit Mopsgesicht«, verrate ich leise.
Sie seufzt. »Ihr beide passt einfach perfekt zusammen, Jo. Ich beneide dich um deine Figur und diesen heiÃen Bikini.« Der heiÃe Bikini stammt aus dem Fundus ihrer englischen Cousine.
»Ach, hör doch auf, Sassy, du weiÃt genau, dass alle Typen hier am See sich nach dir umdrehen und nicht nach mir. Weil du einen supersexy Busen hast.«
»Und warum hast du dann so einen tollen Freund und ich sitze alleine hier?«
»Weil du so verdammt wählerisch bist, Sassy, das ist alles.« Ich sehe sie an, ihr fröhliches Gesicht, und spüre einen Stich. Wie gerne würde ich ihr erzählen, dass alles ganz anders ist, als es aussieht. Dass Kai längst nicht mehr der Junge ist, auf dessen Ruf mein Herz hört. »Sassy?«
»Ja?«
»Ich â¦Â«
In diesem Moment quietscht Elli auf und schreit übermütig: »He, alle mal herschauen.« Saskia und ich wenden unseren Blick wieder zum Wasser und der Moment ist vorbei. Elli steht auf Kais Schultern und springt mit lautem Kreischen ins Wasser.
»So, Mücke«, er schnappt sie sich. »Jetzt geht es raus aus dem Wasser, du hast schon ganz blaue Lippen.«
Elli zieht einen Flunsch und protestiert heftig. Aber Kai trägt sie aus dem Wasser und rubbelt sie trocken. SchlieÃlich sitzt Elli mit Sammy in ein groÃes buntes Handtuch eingewickelt neben mir auf der Decke, klappert mit den Zähnen und vertilgt Kekse, von denen auch
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